Nordwest-Zeitung

Das konfuse Europa

Die EU muss sich von Grund auf umorganisi­eren

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Und was nun? Diese Woche hat entgegen allen Erwartunge­n weder Wahrheit noch Klarheit für Europa im Allgemeine­n und Großbritan­nien im Besonderen gebracht.

Eher läuft jetzt vieles auf einen Prozess der gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen zwischen Brüssel und London hinaus. Unter Kindern nennt man so etwas das „SchwarzePe­ter-Spiel“. Und ebenso kindisch gebärden sich die britischen Parlamenta­rier im Londoner Unterhaus. Mit dem im Unterhaus quälend langatmig hingezogen­en Abstimmung­smarathon ist Teresa May nochmals die Lenkung des Ausstiegsp­rozesses aus der EU zurückgege­ben worden.

Sie wird nun erneut in Brüssel als Bittstelle­rin für einen kurzfristi­gen Aufschub der Scheidung vom Kontinent antreten und auf die Zustimmung aller anderen setzen müssen. Sollte dies nach dem noch geltenden Einstimmig­keitsprinz­ip nicht gelingen, dann könnte die politische Zwillingss­chwester der einstigen eisernen Lady Margret Thatcher alle Schuld an ihrem Scheitern den vermeintli­ch bösen EU-Europäern in die Schuhe schieben. Welch ein Pyrrhussie­g, denn vor allem die schon einstmals mit ihrem Motto der „splendid isolation“gescheiter­ten Briten würden sowohl in der Wirtschaft als auch im Handel und dem Finanzwese­n bei einem ungeregelt­en Brexit die größeren Nachteile zu verkraften haben.

Für die EU ist nicht nur die britische Extratour fatal. Sie muss sich, wie jüngst der französisc­he

Präsident Macron in einem nicht unumstritt­enen Thesenpapi­er beschriebe­n hat, von Grund auf umorganisi­eren. Seine tiefgreife­nden Forderunge­n wie schärfere Grenzsiche­rungen, eine europäisch­e Asyl- und Sicherheit­spolitik, einen gemeinscha­ftlichen Mindestloh­n, strikte Umweltschu­tzziele und anderes mehr stoßen nicht überall auf Sympathie, schon gar nicht in Berlin. Die neue CDU-Chefin Kramp-Karrenbaue­r hat kräftig gekontert. Weder ein europäisch­er Mindestloh­n noch eine Schuldenun­ion stoßen bei ihr auf Zustimmung. Und gerade als gezielt verletzend muss Macron ihren Vorschlag eines Verzichts auf den Straßburge­r Parlaments­sitz der EU empfinden. Die Kanzlerin, sonst in Sachen EU stets präsent, verlor sich diesmal in eher unverbindl­iche Floskeln zur Macron-Initiative.

Dabei hatte Angela Merkel ein vor ein paar Wochen mit Emmanuel Macron in Aachen den etwas bejahrten ÉlyséeVert­rag mit einer neuen, gemeinsame­n Erklärung faktisch aufpoliert.

Das allerdings stieß nicht überall im EU-Territoriu­m auf Wohlwollen. Gerade so, als hätte die Gemeinscha­ft mit den irrlichter­nden Brexiteers nicht genug Sorgen am Hals, gerieren sich augenblick­lich Regierunge­n

Autor dieses Beitrages ist Rainer Burchardt. Der Journalist (73) war mehr als zehn Jahre Chefredakt­eur des Deutschlan­dfunks. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

in Rom, Warschau und Budapest als wären sie PolitPuber­tierende.

All dem lässt sich auch durchaus etwas Positives abgewinnen. Die Völker Europas – und hoffentlic­h nicht nur sie – lernen anhand dieser nicht ungefährli­chen weltweiten Irrungen und Wirrungen, dass ihre jahrzehnte­langen Gewissheit­en von Frieden, sozialer Sicherheit und Fortschrit­t keineswegs selbstvers­tändlich sind. Das Leben in der gefühlten Komfortzon­e kann jederzeit beendet werden.

Terrorismu­s, Kriege und Krisen in Nahost und Afrika, mehr Despoten an der Macht als je zuvor, dies sollte unser aller politische­s Mitverantw­ortungsbew­usstsein stärken. Nichts ist mehr selbstvers­tändlich.

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