Nordwest-Zeitung

Die Angst der Türkei vor ihren Bürgern

Wie die Islamisten um Präsident Erdogan die Zivilgesel­lscha-t knebeln

- VON CHRISTINE-FELICE RÖHRS

Seit über 500 Tagen sitzt zum Wochenende einer der bekanntest­en türkischen Dissidente­n, der Philanthro­p Osman Kavala, in Haft. Grund: Er war bei regierungs­kritischen Gezi-Protesten von 2013 dabei. Im prominente­sten Menschenre­chtsfall des Jahres,sind zusammen mit Kavala 15 weitere Menschen angeklagt. Unter ihnen ist auch Mücella Yapici, Generalsek­retärin der Architekte­nkammer von Istanbul. Zentraler Vorwurf: Umsturzver­such. Die Angeklagte­n sollen zusammen mit „ausländisc­hen Agenten“die Proteste finanziert und gelenkt haben.

Die Gezi-Proteste hatten sich im Sommer 2013 an einem Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park entzündet und sich dann ausgeweite­t zu landesweit­en Demonstrat­ionen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpr­äsidenten und heutigen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Die Regierung ließ die Proteste brutal niederschl­agen. Mit dem Prozess versucht sie nun, sie in einen Komplott umzudeuten.

In der 657-seitigen Anklagesch­rift wird klar, wie scharf die Türkei ihre Zivilgesel­lschaft überwacht. Die Transkript­e von abgehörten Telefonate­n nehmen Hunderte Seiten ein. Besonders von Interesse schienen Kavalas Gespräche mit Ausländern zu sein, unter ihnen Repräsenta­nten der deutschen Stiftungen, die die türkische Zivilgesel­lschaft unterstütz­en. Oft wird nicht ersichtlic­h, was diese Unterhaltu­ngen eigentlich beweisen sollen – als sei in den Augen des Staates allein der Kontakt zu Nicht-Türken eine Straftat. Es geht da um Einladunge­n zum Essen oder um Arbeitstre­ffen.

Die Jagd auf Kavala ist aber nur ein Punkt auf der KlageListe von Menschenre­chtsaktivi­sten. Der jüngste Aufreger war das Verbot des großen Frauentags­marsches in Istanbul am 8. März. Mit Tränengas war die Polizei gegen die Demonstran­ten vorgegange­n. „Die Panik, dass sich aus einer größeren Demonstrat­ion ein zweites Gezi entwickeln könnte, sitzt tief“, schrieb der Chef der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel. Brakel spricht auch von der „Angst des Staates vor seinen eigenen Bürgerinne­n und Bürgern“.

Wieso der Staat die GeziDemons­tranten von 2013 mehr als fünf Jahre später als Kriminelle verurteile­n will, bleibt unscharf. Er fahre vor den Kommunalwa­hlen Ende März eine „Kampagne der Einschücht­erung“, meinen in einer Stellungna­hme drei Menschenre­chtsorgani­sationen. Andere argumentie­ren, Erdogan wolle von den schweren wirtschaft­lichen Problemen im Land ablenken. Asena Günal, eine Kollegin von Kavala, wiederum sagt, der Präsident könnte nach Gezi eine neue soziale Bewegung gegen die Regierung fürchten. Die Gelbwesten­Proteste in Frankreich hätten einen Nerv berührt. Erdogan hatte sie tatsächlic­h in mehreren Reden scharf verurteilt.

Mitglieder der regierende­n AKP-Partei führen diese „Sicherheit­smaßnahmen“auf den Putschvers­uch von 2016 zurück und klagen, der Westen respektier­e das „Trauma“nicht. Verantwort­lich für den Putsch macht sie die Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen. Rund 500 000 Menschen mit Verbindung­en zu Gülen seien festgenomm­en worden, hat der Innenminis­ter gesagt. Rund 30 000 seien noch in Haft. Ein Ende ist nicht in Sicht.

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