Die Angst der Türkei vor ihren Bürgern
Wie die Islamisten um Präsident Erdogan die Zivilgesellscha-t knebeln
Seit über 500 Tagen sitzt zum Wochenende einer der bekanntesten türkischen Dissidenten, der Philanthrop Osman Kavala, in Haft. Grund: Er war bei regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 dabei. Im prominentesten Menschenrechtsfall des Jahres,sind zusammen mit Kavala 15 weitere Menschen angeklagt. Unter ihnen ist auch Mücella Yapici, Generalsekretärin der Architektenkammer von Istanbul. Zentraler Vorwurf: Umsturzversuch. Die Angeklagten sollen zusammen mit „ausländischen Agenten“die Proteste finanziert und gelenkt haben.
Die Gezi-Proteste hatten sich im Sommer 2013 an einem Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park entzündet und sich dann ausgeweitet zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Regierung ließ die Proteste brutal niederschlagen. Mit dem Prozess versucht sie nun, sie in einen Komplott umzudeuten.
In der 657-seitigen Anklageschrift wird klar, wie scharf die Türkei ihre Zivilgesellschaft überwacht. Die Transkripte von abgehörten Telefonaten nehmen Hunderte Seiten ein. Besonders von Interesse schienen Kavalas Gespräche mit Ausländern zu sein, unter ihnen Repräsentanten der deutschen Stiftungen, die die türkische Zivilgesellschaft unterstützen. Oft wird nicht ersichtlich, was diese Unterhaltungen eigentlich beweisen sollen – als sei in den Augen des Staates allein der Kontakt zu Nicht-Türken eine Straftat. Es geht da um Einladungen zum Essen oder um Arbeitstreffen.
Die Jagd auf Kavala ist aber nur ein Punkt auf der KlageListe von Menschenrechtsaktivisten. Der jüngste Aufreger war das Verbot des großen Frauentagsmarsches in Istanbul am 8. März. Mit Tränengas war die Polizei gegen die Demonstranten vorgegangen. „Die Panik, dass sich aus einer größeren Demonstration ein zweites Gezi entwickeln könnte, sitzt tief“, schrieb der Chef der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel. Brakel spricht auch von der „Angst des Staates vor seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern“.
Wieso der Staat die GeziDemonstranten von 2013 mehr als fünf Jahre später als Kriminelle verurteilen will, bleibt unscharf. Er fahre vor den Kommunalwahlen Ende März eine „Kampagne der Einschüchterung“, meinen in einer Stellungnahme drei Menschenrechtsorganisationen. Andere argumentieren, Erdogan wolle von den schweren wirtschaftlichen Problemen im Land ablenken. Asena Günal, eine Kollegin von Kavala, wiederum sagt, der Präsident könnte nach Gezi eine neue soziale Bewegung gegen die Regierung fürchten. Die GelbwestenProteste in Frankreich hätten einen Nerv berührt. Erdogan hatte sie tatsächlich in mehreren Reden scharf verurteilt.
Mitglieder der regierenden AKP-Partei führen diese „Sicherheitsmaßnahmen“auf den Putschversuch von 2016 zurück und klagen, der Westen respektiere das „Trauma“nicht. Verantwortlich für den Putsch macht sie die Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen. Rund 500 000 Menschen mit Verbindungen zu Gülen seien festgenommen worden, hat der Innenminister gesagt. Rund 30 000 seien noch in Haft. Ein Ende ist nicht in Sicht.