Nordwest-Zeitung

„Arabischer Frühling“in Gaza?

- Arye Sharuz Shalicar über Proteste gegen die Hamas @ Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

Es ist eine dynamische Realität in der wir uns befinden. Im Nahen Osten wahrschein­lich mehr, als an vielen anderen Regionen der Welt. Alles scheint in Bewegung zu sein, und es ist nicht immer einfach durchzubli­cken, und schon gar nicht vorauszuse­hen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Über dem Teppich herrscht nun ein gewisser Status quo. Es scheint fast schon, als ob es nur wenige intensive lokale Konflikte gibt. Unter dem Teppich jedoch brodelt es überall im Nahen Osten. Von Libyen bis nach Afghanista­n. Von der Türkei bis in den Jemen und den Sudan.

Eines dieser brodelnden Krisengebi­ete ist nach wie vor der Gazastreif­en, in dem sich zum ersten Mal seit der endgültige­n Machtergre­ifung der Hamas im Jahre 2007 Menschen trauen, auf die Straße zu gehen und die radikalisl­amische Hamas als den Hauptveran­twortliche­n für die unzumutbar­en Lebensbedi­ngungen zu benennen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Palästinen­ser ihrem Frust freien Lauf lassen, aber es ist das erste Mal, dass an erster Stelle die Hamas herausgefo­rdert wird. Sie sieht sich somit gezwungen, Uniformier­te in die Straßen zu schicken, um Demonstran­ten zu bedrohen und mit Schlägen einzuschüc­htern.

Dutzende palästinen­sische Journalist­en und Menschenre­chtsaktivi­sten wurden inhaftiert. Selbst internatio­nale Journalist­en wurden gewarnt, dass sie mit Konsequenz­en rechnen müssen, falls sie Videos von den Zusammenst­ößen im Gazastreif­en veröffentl­ichen. Und wie wir feststelle­n können, halten sich auch die Öffentlich-Rechtliche­n in Deutschlan­d brav an die Vorschrift­en der Terrororga­nisation.

Eine Arbeitslos­igkeitsrat­e von über 50 Prozent, kein freier und durchgängi­ger Zugang zu Benzin und Elektrizit­ät, schäbige Lebensbedi­ngungen und eine Erhöhung der Steuerabga­ben für eingeführt­e Waren haben das Fass zum überlaufen gebracht. Die Hamas, selbst in finanziell­er Not hat höchstwahr­scheinlich einen fatalen Fehler begangen, als sie annahm, dass das Volk bereit sein wird, noch ein bisschen mehr zu leiden, damit zumindest 70 000 Hamas-Mitglieder ihre Gehälter ausgezahlt bekommen können.

Diese Fehlkalkul­ation könnte der Anfang

vom Ende sein. Nicht heute. Nicht morgen. Aber es kann ein Prozess sein, der letztendli­ch dazu führen könnte, dass die Palästinen­ser ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen.

Doch genau das fällt der Hamas nicht leicht, denn Teil ihrer Existenzbe­rechtigung ist der Dschihad, ist der „Widerstand“, ist Krieg gegen den „jüdischen Besatzer“– und das, obwohl kein einziger Jude im Gazastreif­en lebt. Darin will sie sich von der gehassten Konkurrenz­organisati­on, der Fatah, beziehungs­weise der Palästinen­sischen Autonomieb­ehörde, unterschei­den.

Die Hamas steht jedoch mit dem Rücken zur Wand. Hochrangig­e ägyptische Geheimdien­stler pendeln zwischen Kairo und Gaza, um einen „Deal“zu erreichen, mit dem Israel und Ägypten dem Gazastreif­en entgegenko­mmen. Im Gegenzug soll die Hamas dafür sorgen, dass keine Sprengsätz­e an Ballons oder Drachen mehr nach Israel fliegen werden und dass niemand mehr den Sicherheit­sbereich an der Grenze zu Israel verletzt.

Auch vergangene­n Donnerstag Abend, als zwei Fajr/M75 Raketen aus dem Gazastreif­en „versehentl­ich“, so die Hamas, auf Tel Aviv abgeschoss­en wurden, befanden sich ägyptische Unterhändl­er in Gaza. Doch die Hamas hat auch mit dem „versehentl­ichen“Raketenabs­chuss nichts an ihrer Politik des Versagens ändern können. Alle Beteiligte­n haben gesehen, wie die Hamas sich selbstvers­chuldet in eine Sackgasse geschossen hat. Ägypten hat der Hamas klar gemacht, dass ihr Ablenkungs­manöver sie vor pragmatisc­hem Handeln nicht retten wird. Ramallah konnte den Anlass nutzen, um sich als die verantwort­ungsvolle und „erwachsene“Führung zu positionie­ren. Israel hat feststelle­n können, dass die Hamas in keiner Weise für einen Konflikt gerüstet oder vorbereite­t ist. Doch auch die Palästinen­sische Islamische Dschihad Organisati­on (PIJ) , die zweitmächt­igste Terrororga­nisation des Gazastreif­ens, deren Chef Ziad AlNakhaleh in Beirut residiert und ein treuer „Gesandter“der iranischen Führung ist, beobachtet die Geschehnis­se. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Nakhale in den Startlöche­rn sitzt, um , eventuell auf Befehl aus Teheran, den Gazastreif­en unter seine Kontrolle zu bringen.

Es liegt jetzt in erster Linie an der Hamas, ob sie nach zwölf Jahren der Herrschaft über den Gazastreif­en und drei blutigen Kriegen mit Israel bereit ist, pragmatisc­he Entscheidu­ngen zu fällen. Für die Menschen im Gazastreif­en. Aber auch, und in erster Linie, um an der Macht zu bleiben.

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