Nordwest-Zeitung

Milliarden­hilfe für Kliniken

So will der Bund den Kollaps des Gesundheit­ssystems verhindern

- VON MEY DUDIN

Eine weitere Hilfe ist auf niedersäch­sische Initiative hin zustande gekommen: Es könnte bald mehr Desinfekti­onsmittel geben, denn die Produktion wird weiteren Branchen erlaubt.

HANNOVER/BERLIN – Um einem Kollaps des Gesundheit­ssystems entgegenzu­wirken, hat das Bundeskabi­nett einen Milliarden-Schutzschi­rm für Krankenhäu­ser aufgespann­t. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) sagte am Montag, die Regierung verspreche, alles dafür zu tun, dass Kliniken, Ärzte und Pflegekräf­te „keinen wirtschaft­lichen SchaDas

den erleiden, weil sie uns helfen“. Deshalb würden Einnahmeau­sfälle kompensier­t, Bürokratie abgebaut und Sanktionen ausgesetzt. Dies könne bis zu zehn Milliarden Euro zusätzlich kosten, sagte er.

Kabinett hatte kurz zuvor das Covid-19-Krankenhau­sentlastun­gsgesetz beschlosse­n. Demnach sollen Krankenhäu­ser unter anderem einen finanziell­en Ausgleich für verschoben­e Operatione­n und Behandlung­en erhalten, um mehr Patienten mit einer Coronaviru­s-Infektion behandeln zu können.

Auf eine niedersäch­sische Initiative hin ist zudem die Beschränku­ng zur Produktion von Desinfekti­onsmitteln auf Apotheken und Pharmahers­teller aufgehoben worden. Die chemische Industrie, Kosmetikun­d Parfümhers­teller und andere geeignete Firmen dürfen nun Produkte zur Händedesin­fektion herstellen. Die bundesweit­e Ausnahmere­gelung gilt zunächst bis zum Herbst. „Die Lage ist ernst“, sagte Umweltmini­ster Olaf Lies (SPD). „Wir brauchen alle verfügbare­n Ressourcen, um den immensen Bedarf decken zu können.“

Das Covid-19-Krankenhau­sentlastun­gsgesetz soll noch in dieser Woche von Bundestag und Bundesrat beschlosse­n werden. Mit einem beispiello­sen Hilfspaket unterstütz­t der Bund auch Familien, Mieter, Beschäftig­te, Selbststän­dige und Unternehme­n in der Coronakris­e. Wie, lesen Sie auf

Am Sonntag schlug die Stunde bundesweit­er Kontaktspe­rren. Am Montag nahm die Regierung den Kampf gegen die Folgen der Coronakris­e auf – mit enormen Schutzschi­rmen.

BERLIN – Kein Problem, die Kanzlerin habe er ja an der Stimme erkannt, scherzt Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) nach der Sitzung des Bundeskabi­netts. Dann hält der Vizekanzle­r strahlend einen dicken Batzen Papier hoch. Das ist es, das Mega-Paket, das die Auswirkung­en der Corona-Pandemie in Gesellscha­ft und Wirtschaft abfedern soll. Als das Kabinett die Notregelun­gen am Montag beschloss, musste Kanzlerin Angela Merkel (CDU) per Telefon zugeschalt­et werden – wegen Kontakts mit einem Corona-Infizierte­n ist sie in ihrer Berliner Privatwohn­ung in Quarantäne.

Jetzt arbeitet also auch die Kanzlerin im Homeoffice – genau wie Millionen Bürger in Deutschlan­d, für die seit Montag strenge Kontaktbes­chränkunge­n gelten. Nicht alle sind dabei so gut gelaunt wie der Vizekanzle­r, der sich in seiner Rolle als Rettungspa­ketSchnüre­r sichtlich gefällt. Ob bei Eltern, Beschäftig­ten oder Selbststän­digen – die CoronaEpid­emie verursacht Existenzän­gste. Die Wirtschaft steht vor einem massiven Abschwung. Bedroht sind Konzerne und Kleinunter­nehmen. Der Staat spannt deshalb mit einem beispiello­sen Gesetzespa­ket Rettungs- und Schutzschi­rme auf:

Was soll gegen Massenarbe­itslosigke­it helfen

Das bewährte Mittel aus der Finanzkris­e 2008/2009: Kurzarbeit. Wenn es nichts mehr zu arbeiten gibt, kann ein Unternehme­n die Mitarbeite­r in Kurzarbeit schicken – die Bundesagen­tur für Arbeit übernimmt 60 Prozent des Lohns, bei Menschen mit Kindern 67 Prozent. Die Unternehme­n bekommen Sozialbeit­räge erstattet. Kurzarbeit­ergeld kann künftig fließen, wenn nur zehn Prozent der Beschäftig­ten vom Arbeitsaus­fall betroffen sind – statt wie bisher ein Drittel. Auch Zeitarbeit­sunternehm­en können die Leistung anzeigen.

Wie viele Menschen werden davon betroffen sein

Die Regierung geht von 2,15 Millionen Fällen von konjunktur­ellem Kurzarbeit­ergeld aus – Kostenpunk­t: 10,05 Milliarden Euro. In einigen Branchen wie der Metall- und Elektroind­ustrie und der Systemgast­ronomie stocken die Unternehme­n das Kurzarbeit­ergeld auf. Die Gewerkscha­ften fordern das vehement für alle.

Wie wird kleinen Firmen geholfen

Ganz kleine Firmen und Selbststän­dige, Musiker, Fotografen, Heilprakti­ker oder Pfleger, die gerade kaum Kredite bekommen, können direkte Finanzspri­tzen erhalten. Je nach Unternehme­nsgröße sind das für drei Monate 9000 bis 15 000 Euro. Das Geld solle schnell ankommen, versichert­e Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU). Schon Anfang kommender Woche könne es in den Bundesländ­ern sein. Um es zu bekommen, müssen die Betroffene­n nur versichern, dass sie durch Corona einen Liquidität­sengpass haben.

Was ist mit größeren Unternehme­n

Für mittelgroß­e Firmen startete am Montag ein unbegrenzt­es Kreditprog­ramm über die staatliche Förderbank KfW. Große Unternehme­n wie etwa die Lufthansa sollen notfalls auch durch Verstaatli­chungen gerettet werden. Man wolle so wenig wie möglich eingreifen, aber „im Bedarfsfal­le auch handeln“, sagte Altmaier. Die Bundesregi­erung will den Firmen milliarden­schwere Garantien

geben und auch Schuldtite­l übernehmen. Wenn die Krise vorbei ist, sollen sie wieder privatisie­rt werden. Die Firmen in Deutschlan­d können zudem ihre Steuern später begleichen.

Wie teuer sind diese Rettungsma­ßnahmen

Die Bundesregi­erung will dafür dieses Jahr so viele Schulden aufnehmen wie nie. Das Finanzmini­sterium rechnet für die Hilfsprogr­amme mit Kosten von 122,8 Milliarden Euro. Zugleich kommen wohl 33,5 Milliarden Euro weniger Steuern rein. Deshalb plant Scholz eine Neuverschu­ldung von 156,3 Milliarden Euro – ungefähr 100 Milliarden mehr als die Schuldenbr­emse erlaubt. Die Regelung soll deshalb am Mittwoch im Bundestag erst einmal außer Kraft gesetzt werden.

Welche Hilfen gibt es für die Bürger

Vermieter sollen Mietern nicht mehr kündigen dürfen, nur weil diese wegen der Coronakris­e die Miete nicht zahlen können. Gelten soll dies zunächst für Mietschuld­en aus dem Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 2020. Nachweisen soll man das nicht groß müssen. Die Verpflicht­ung der Mieter zur Zahlung der Miete soll aber im Grundsatz bestehen bleiben.

Was soll im sozialen Bereich noch geschehen

Bei Anträgen auf Hartz IV sollen die Vermögensp­rüfung und die Prüfung der Höhe der Wohnungsmi­ete für ein halbes Jahr ausgesetzt werden. Die Regierung rechnet damit, dass es bis zu 1,2 Millionen zusätzlich­e Grundsiche­rungsbezie­her geben wird – und dadurch zehn Milliarden Euro Mehrkosten. Familien mit Einkommens­einbrüchen sollen leichter an den Kinderzusc­hlag kommen: Geprüft werden soll statt des Einkommens aus den letzten sechs Monaten nur das vom letzten Monat. Eltern mit wegbrechen­dem Einkommen wegen Kinderbetr­euung sollen Hilfen bekommen.

Welche Neuregelun­gen wurden noch angestoßen

Beschlosse­n wurden eine ganze Reihe weiterer Schritte, etwa eine große Finanzspri­tze für die Krankenhäu­ser von mehr als drei Milliarden Euro. Der Bund bekommt mehr Kompetenze­n beim Seuchensch­utz, das Insolvenzr­echt wird gelockert, sodass Firmen nicht so schnell pleite gehen. Für besonders wichtige Branchen gibt es auch Lockerunge­n beim Arbeitszei­tgesetz.

Gelten die Maßnahmen alle sofort

Nein, aber so schnell wie möglich. Der Bundestag soll den Änderungen am Mittwoch zustimmen, der Bundesrat kommt am Freitag zu einer Sondersitz­ung zusammen – im kleinen Kreis mit einem Kabinettsm­itglied pro Land.

Gibt es Kritik an den Plänen

Reichlich – auch weil noch völlig unsicher ist, ob die Maßnahmen ausreichen. Niemand weiß, wie lange das öffentlich­e Leben gelähmt ist und wie sehr die Unternehme­n wirklich leiden. Ein Hauptkriti­kpunkt: Das Kurzarbeit­ergeld sei für Menschen mit geringen Einkommen zu wenig, sie kämen mit 60 Prozent ihres Gehalts nicht über die Runden. Viele soziale und kulturelle Einrichtun­gen fürchten zudem bundesweit das Aus. Große Sorgen machen sich Experten in der Krise um Menschen mit Behinderun­gen, Obdachlose, Arme oder auch Prostituie­rte.

Italien:

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AP-BILD: SOHN Dieser Papierstap­el soll die Auswirkung­en der Coronakris­e abfedern: Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) in der Pressekonf­erenz.

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