ZUR PERSON
20 Uhr, Sport 1, Rückblick auf die WM 2015
1916 hat das Berliner Organisationskomitee die Rückgabe der Spiele an das IOC veranlasst – also erst mitten im Krieg. Anderthalb Jahre hat man noch gewartet. Berlin ist davon ausgegangen, dass man den Krieg schnell beenden kann und hat auf Zeit gesetzt – und das IOC ist von sich aus nicht initiativ geworden.
1940 sollten die Spiele in Tokio (Sommer) und Sapporo (Winter) stattfinden, sie wurden aber noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs von Japan wieder abgegeben. Wieso? Peiffer: Nachdem die Japaner im Juli 1937 in China einmarschiert waren, gaben sie die Spiele von sich aus an das IOC zurück. Das war aber erst im Juli 1938. Das IOC vergab die Winterspiele dann nach St. Moritz. Die Schweizer gaben die Spiele jedoch auch zurück wegen Differenzen mit dem
IOC über die Anwendung der Amateurbestimmungen im alpinen Skisport. Daraufhin wurde im Juni 1939 einstimmig durch das IOC GarmischPartenkirchen mit den Winterspielen betraut. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Das IOC vergibt nach den Erfahrungen der Hitler-Spiele von 1936 die Winterspiele drei Jahre später wieder an das nationalsozialistische Deutschland. Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Das bedeutete den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Spiele wurden erst im November 1939 von Seiten der Deutschen abgesagt. Einen Monat zuvor hatte das OK aus Garmisch noch beschlossen, sie zurückzugeben – und jetzt Zitat – „wenn sich bis Mitte November keine Aussicht auf Frieden ergibt“.
Und die Sommerspiele 1940? Peiffer: Die sollten dann in Helsinki stattfinden. Die Stadt hatte bei dem Bewerbungsverfahren zuvor gegen Tokio verloren. Auch diese Spiele wurden kurzfristig erst im April 1940 abgesagt. Ähnlich verlief die dritte und vorerst letzte Absage der Olympischen Spiele im Jahr 1944. Sie sollten mitten im Krieg in London stattfinden, alles war geplant. Mit der Feier der Spiele in London wollte das IOC dort gleichzeitig sein 50-jähriges Bestehen feiern. Die Jubiläumsfeier fand letztlich in Lausanne statt.
Alle abgesagten Spiele werden dennoch in der offiziellen Chronik geführt. Woran liegt das? Peiffer: Das ist für mich das Schizophrene. Nach außen hin soll so etwas wie Kontinuität symbolisiert werden. Es sollte deutlich gemacht werden, dass die Spiele etwas Überdauerndes sind, dass äußere Einflüsse, wie in diesen Fällen Kriege, auf die Idee der Spiele keinen Einfluss haben.
Kann man die äußere Darstellungsweise auf die aktuelle
Prof. Dr. Lorenz Peiffer
(Bild) ist Sporthistoriker aus Westerstede (Ammerland), der jahrelang an der Universität in Hannover lehrte. 2014 erhielt der heute 71Jährige den Dr.-BernhardZimmermann-Preis des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte. Lorenz Peiffer ist außerdem berufenes
Zeit und die Situation rund um die Tokio-Spiele (ab 24. Juli), die trotz der Corona-Krise nicht abgesagt sind, übertragen? Peiffer: Ja. Ende der vergangenen Woche gingen Bilder um die Welt, wie das Olympische Feuer im Panathenaen-Stadion in Athen an die Offiziellen von Tokio übergeben wird. Wenn man diese Inszenierung interpretiert, will das IOC damit zum Ausdruck bringen: Seht, es ist alles ok, der Fackellauf beginnt, das Olympische Feuer als Symbol für den sogenannten ‚Olympischen Frieden‘
ist auf dem Weg. Das IOC will damit die Botschaft vermitteln, die Vorbereitungen laufen perfekt, die Spiele können am 24. Juli 2020 beginnen.
Zwar ist das Komitee inzwischen zurückgewichen und will in den nächsten vier Wochen über eine Verlegung entscheiden. Aber: Ist der Glaube, die Spiele austragen zu können, nicht fernab der Realität? Peiffer: Ich finde es absolut hanebüchen. Das IOC sagt, man Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur.
habe noch Zeit, die Spiele beginnen ja erst Ende Juli – zu einer Zeit, in der in Tokio übrigens eine Hitzewelle zu erwarten ist, was für die Sportlerinnen und Sportler ohnehin schon eine unsinnige Terminierung darstellt. Sie müssen derzeit überall ihre Trainingslager abbrechen. In Deutschland sind Trainingsstätten gesperrt. Athleten sind nicht in der Lage, sich professionell auf die Spiele vorzubereiten.
Dabei stellt das IOC die Athleten doch – angeblich – in den Mittelpunkt der Spiele. Peiffer: Sie sind der Mittelpunkt der Spiele. Ohne sie gäbe es diese Spiele überhaupt nicht. Es ist für viele der Höhepunkt ihrer Sportlerkarriere, aber sie können sich nicht mehr gezielt vorbereiten, ohne sich selbst und auch andere gesundheitlich zu gefährden. Wenn man dann noch die Gefahren des Coronavirus für die Menschheit insgesamt mit einbezieht, ist die Durchführung nicht zu verantworten.
Dazu kommt noch, dass viele sich in den nächsten Wochen noch qualifizieren müssten. Peiffer: Es herrscht doch eine Ungleichheit sondergleichen. Mehr als 4000 Athletinnen und Athleten müssen sich noch qualifizieren. Und dann erst die Zahlen: 11 000 Sportler werden in Tokio erwartet, dazu Tausende Journalisten, Betreuer, Funktionäre, Kampfrichter, Abertausende Fans aus der ganzen Welt. Die Durchführung der Spiele in der Zeit der Corona-Krise noch ernsthaft in Erwägung zu ziehen, ist unverantwortlich. Die Kritik, dass das IOC eine Absage auf die lange Bank schiebt, ist absolut berechtigt.
Warum tun sich die Handelnden um IOC-Präsident Bach so schwer mit einer Absage? Peiffer: Es hängen natürlich Milliarden dran. Das IOC hat bereits Millionen Dollar eingestrichen durch die Vergabe der TV-Gelder, das müsste alles neu verhandelt und auch mit den Top-Sponsoren müsste neu verhandelt werden. Die
Spiele sind zwar gegen den Ausfall versichert, aber die Japaner haben ja auch zig Millionen mehr investiert als sie veranschlagt hatten. Es wäre auch für das Land ein riesiger finanzieller Verlust.
Auf welchen Termin könnten die Spiele verschoben werden? Peiffer: Im Oktober 1964 haben die Spiele schon einmal in Tokio stattgefunden, da war man so clever, sie so spät anzusetzen aufgrund der Hitze im Sommer. Das ist dieses Mal keine Option. Die Verschiebung auf Sommer 2021 entfällt, da da nun auch noch die Fußball-EM stattfinden wird. Es gäbe ein Zeitfenster im internationalen Sport, das wäre der Sommer 2022, weil die Fußball-WM in dem Jahr im Winter in Katar stattfindet. Aus IOC-Sicht wären dann allerdings 2022 die Winter- und Sommerspiele im gleichen Jahr und man würde sich vieler Vermarktungschancen berauben. Das war ja der Hintergrund, warum man 1992 die Winter- von Sommerspielen getrennt hat – eine reine Marketing-Überlegung.