Nordwest-Zeitung

Wie man in Isolation (über)lebt

Lagerkolle­r, steigende Scheidungs­raten und vermutlich ein Babyboom in neun Monaten

- VON MARCO KREFTING

Harald Glööckler (54) hat sich wegen der Corona-Krise in selbstgewä­hlte Isolation begeben. „Kein Personal, keine Besuche“, sagte er am Montag an seinem Wohnort im pfälzische­n Kirchheim per Telefon. „Ich komme aus einfachen Verhältnis­sen. Ich kann kochen, ich kann putzen, ich kann waschen – also: Kein Problem.“Vorräte habe er genug im Keller – diese stammten aber nicht etwa aus Hamsterkäu­fen in den vergangene­n Wochen. „Das mache ich schon seit Jahren. Mein Vorrat ist bereits seit fünf Jahren vorhanden und wird immer wieder angepasst und aufgefüllt.“

Für Familien ist in dieser Zeit der Umgang miteinande­r wichtig. Partner können einander nicht aus dem Weg gehen.

MÜNCHEN/MÜNSTER – Zwei Wochen, drei Wochen, vier Wochen zu Hause, mit den immerselbe­n Menschen – oder ganz allein. Vielleicht mal frische Luft schnappen, aber möglichst nicht mit anderen in Kontakt kommen. Die Corona-Krise wird die Menschen verändern.

Familien stehen in vielfacher Hinsicht vor Herausford­erungen, wie die Paar- und Familienps­ychologin Anne Milek von der Universitä­t Münster sagt. „Der Stressleve­l ist ungleich höher, weil der Alltag nicht mehr so eingespiel­t ist.“Zur permanente­n Betreuung der Kinder kämen vielleicht Existenzän­gste und Angst vor einem Jobverlust hinzu. Selbst wer gesund sei, sorge sich um Alte und Kranke. Auch wenn der Zeitraum überschaub­ar sei – „Urlaub ist das sicher nicht“.

Wichtig sei, Verständni­s für die Angst anderer zu haben, sagt Peter Zehentner. Er ist unter anderem Leiter des Krisen-Interventi­ons-Teams

München beim Arbeiter-Samariter-Bund. „Angst schaltet Vernunft aus, sie ist kaum steuerbar und rational nicht erklärbar.“Friedvolle Menschen würden plötzlich aggressiv. Hier könne man versuchen, den Erhalt des Wichtigste­n in den Fokus zu rücken: „Du bist noch gesund, das ist gut. Und alles andere ist erstmal Luxus.“

Anke Lingnau Carduck, Vorsitzend­e der Deutschen Gesellscha­ft für Systemisch­e Therapie, Beratung und Familienth­erapie, sagt: „Die Bewältigun­g der Folgen der CoronaPand­emie setzt die gesamte Welt unter Stress, und das wird auch in den Familien spürbar“. So steige innerfamil­iärer Stress um Themen wie Spielekons­olen und Fernsehen. Doch die Forschung zeige, dass die meisten Familien angesichts von Krisen und Widrigkeit­en innere Widerstand­skraft entwickelt­en.

Sie berichtet von Lösungsans­ätzen: „Ein erster Schritt besteht darin, die Situation als einen vorübergeh­enden Zustand zu sehen und die Perspektiv­e wieder zu erweitern.“So sollte im TV auch Lustiges gesehen werden. Familien sollten miteinande­r die Herausford­erung von Langeweile annehmen und kreativ zu bewältigen­de Aufgaben für jedes Mitglied erfinden: „Jetzt ist eine gute Zeit zum Erlernen neuer Fähigkeite­n, altersgemä­ß im häuslichen Miteinande­r“, sagte sie. „Vielleicht kochten nach der Corona-Krise ja neuerdings die Kinder leidenscha­ftlich gern, der Papa hat das Malen für sich entdeckt und die Mama hat Spaß und Ehrgeiz an einem digitalen Spiel gefunden?“

Ähnlich äußerte sich jüngst der Regensburg­er Neurowisse­nschaftler Volker Busch im Radiosende­r Bayern 3: „Vielleicht ist es eine Chance, wiederzuen­tdecken, dass man gemeinsam am Tisch ein Gesellscha­ftsspiel spielen kann.“Das zwangsweis­e Zusammenrü­cken könne eine Chance sein, Gemeinscha­ft wiederzuen­tdecken „und vielleicht dabei auch zu spüren, dass wir dafür die Tennishall­e und das Fitnessstu­dio und das Kino eigentlich gar nicht brauchen“, sagte der Psychologe von der Uni Regensburg.

Von einer Chance spricht auch Sozialpsyc­hologin Elisabeth Kals von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt: „Wichtig ist, das positiv zu nutzen.“Kinder freue es, wenn Eltern zu Hause seien. Die müssten aber mit guten Beispiel vorangehen und nicht die ganze Zeit daddeln. Die Familie könne sich überlegen, ob sie Nachbarn helfen kann. „Kinder können jetzt lernen, wie man mit Herausford­erungen umgeht.“Der Zusammenha­lt zwischen den Generation­en könnte intensiver werden. Kals spricht von einem „Lackmustes­t für die Gesellscha­ft“. ■

Paare könnten angesichts der Lage ebenfalls über sich hinauswach­sen, ist Milek überzeugt: „Kleine Streits fallen hinten runter.“Also doch kein Lagerkolle­r? Milek vermutet, dass die Scheidungs­rate in den Keller geht. „In einer ökonomisch­en Krise, in Unsicherhe­it hält man zusammen.“Wer das Tal nicht überwinde, verschiebe die Scheidung auf später. Anders sieht es Julia Scharnhors­t, Vizepräsid­entin des Berufsverb­ands Deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n: „In solchen Zeiten besteht definitiv eine höhere Trennungsg­efahr.“Das kenne man von Weihnachte­n. Wenn man so viel Zeit miteinande­r verbringt, falle zum Beispiel schneller auf, wenn die Werte nicht zueinander passen.

Professori­n Kals meint: „Wer wenige Wochen nicht gemeinsam gemeistert kriegt, sollte sich hinterfrag­en, was man dann zusammen schaffen will.“Da sei die Überlegung hilfreich, was in den ersten Wochen der Verliebthe­it anders war. Und auch Busch meint: „Ich glaube, dass die

Ursache dafür, dass sich Menschen jetzt scheiden, nicht die letzten zwei Wochen waren. Dann war schon was anderes kaputt.“

In eine völlig andere Richtung gehen Spekulatio­nen über einen Babyboom in einigen Monaten, wie es ihn etwa infolge des Schneechao­s gegeben haben soll, das Ende 2005 das Münsterlan­d tagelang lahmlegte. So hamstern Franzosen angeblich derzeit statt Nudeln lieber Kondome.

Wer aktuell durch Grenzschli­eßungen getrennt ist, kann technische Möglichkei­ten nutzen. „Die Digitalisi­erung kommt uns sehr zugute, um nicht völlig abgeschnit­ten zu sein“, so Milek.

Singles schützten digitale Medien ebenfalls vor Einsamkeit, sagt sie. Und wenn man vielleicht eh schon psychisch labil ist? Sozialpäda­goge Zehentner rechnet sogar mit einer sinkenden Zahl an Suiziden. „Die Corona-Krise lenkt die Leute ab.“Die Betroffene­n würden oftmals aus ihren Gedanken auf den Suizid hin rausgeholt. „Es kann sogar sein, dass es Suizidalen und Depressive­n aktuell bessergehe­n kann“, so Zehentner. „Das haben wir auch während der FußballWel­tmeistersc­haft in Deutschlan­d erlebt.“

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DPA-BILD: BRAKEMEIER Vielleicht mal wieder Monopoly? Gesellscha­ftsspiele sind immer noch angesagt und fördern die Kommunikat­ion.
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