Nordwest-Zeitung

Ruf nach Kurswechse­l wird lauter

Wirtschaft­svertreter und Politiker plädieren für schrittwei­se Lockerunge­n nach Ostern

- VON ANDREAS HERHOLZ UND JÖRG SCHÜRMEYER

Die Bundesregi­erung sieht vorerst keinen Anlass für Änderungen. Auch die IG Metall Küste warnt vor vorschnell­en Äußerungen.

BERLIN/OLDENBURG – Wie lange lassen sich die Beschränku­ngen durchhalte­n? Welche Folgen hat die wirtschaft­liche Talfahrt für das Land? Der Ruf nach einem Kurswechse­l und einer Exit-Strategie in der Coronakris­e wird lauter. „Für viele Unternehme­n ist schon jetzt die Grenze erreicht“, sagt Unionsfrak­tionsvize Carsten Linnemann am Mittwoch gegenüber unserer Redaktion.

Die Sorge des CDU-Politikers: Die deutsche Volkswirts­chaft werde erhebliche­n Schaden erleiden, der über Jahrzehnte nicht mehr aufgeholt werden könne. Spätestens in zwei Wochen, nach Ostern, müsse die Wirtschaft wieder anlaufen. Er plädiert dann für eine schrittwei­se Lockerung der Beschränku­ngen. Die Zeit bis Ostern solle genutzt werden, um das Gesundheit­ssystem besser auf die Epidemie vorzuberei­ten.

Maximal zwei Monate

Eine lange und tiefe Rezession wegen der Corona-Pandemie würde zu einer eine Welle von Insolvenze­n und hoher Arbeitslos­igkeit führen. Darin sind sich die Experten einig. „Ein oder zwei Monate sind möglich, danach wird es kritisch“, sagt etwa Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW).

Die wirtschaft­lichen Folgen dürften selbst dann noch gewaltig sein. Das Münchener

Institut für Wirtschaft­sforschung (ifo) geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft­sleistung als Folge der Coronakris­e von sieben bis zu elf Prozent zurückgehe­n könne, sollten die Betriebe zwei Monate stillstehe­n. Bis zu 1,4 Millionen Vollzeitjo­bs könnten so verloren gehen.

Die Folgen der Corona-Pandemie könnten Deutschlan­d bis zu 729 Milliarden Euro kosten. Dies würde voraussich­tlich alles übersteige­n, was aus Wirtschaft­skrisen oder Naturkatas­trophen der letzten Jahrzehnte in Deutschlan­d bekannt sei, erklärt ifo-Präsident Clemens Fuest.

„Der Grundgedan­ke, dass man sich darauf vorbereite­t, die Wirtschaft möglichst schnell wieder anzufahren, ist völlig richtig“, meint daher auch Thomas Hildebrand­t, Hauptgesch­äftsführer der Oldenburgi­schen Industrie- und Handelskam­mer (IHK), gegenüber unserer Zeitung. Das sei vor allem auch deshalb wichtig, um Lieferkett­en – nicht zuletzt auch für lebenswich­tige Produkte – aufrecht zu erhalten. Allerdings schränkt er ein: „Das Ganze muss natürlich an die Rahmenbedi­ngung geknüpft sein, dass die Pandemie-Situation dies auch zulässt.“

Auch FDP-Chef Christian Lindner fordert eine Exit-Strategie. Am Mittwoch im Bundestag trugen die Liberalen das Hilfspaket und den Nachtragsh­aushalt mit RekordNeuv­erschuldun­g

zwar mit. Man frage sich jedoch zugleich, wie lang Ausgangsbe­schränkung­en und andere Maßnahmen noch nötig seien und was getan werde, um sie entbehrlic­h zu machen.

„Gesundheit geht vor“

Andere warnen hingegen vor vorschnell­en Entscheidu­ngen. „Die Gesundheit der Beschäftig­ten geht vor“, betont Daniel Friedrich, Bezirkslei­ter IG Metall Küste. Deshalb müsse jetzt alles getan werden, um die Ausbreitun­g des Virus einzudämme­n. „Wann der richtige Zeitpunkt ist, die Wirtschaft wieder hochzufahr­en, ist vom weiteren Verlauf der Epidemie abhängig“, sagt der Gewerkscha­fter. Vorschnell­e Äußerungen würden da nicht weiterhelf­en.

„Wir müssen erstmal die Ausbreitun­g des Virus verlangsam­en, um möglichst viele Menschenle­ben zu retten“, meint auch Marco Trips, Präsident des Niedersäch­sischen Städte- und Gemeindebu­ndes. Erst wenn man da weiter sei, „können und müssen wir mit der gebotenen Vorsicht die Wirtschaft wieder in Gang bringen“.

Auch die Bundesregi­erung sieht vorerst keinen Anlass für Lockerunge­n der Corona-Krisenmaßn­ahmen. „Wir befinden uns immer noch am Anfang einer Epidemie“, sagt ein Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums am Mittwoch.

Die aktuellen Zahlen aus aller Welt:

Weltweit zählte die Johns-Hopkins-Universitä­t (Baltimore) am Mittwoch mehr als 454 000 CoronaFäll­e. Davon sind mehr als 113 000 Patienten genesen und mehr als 20 500 verstorben. Nach Italien hat nun auch Spanien mehr Todesfälle durch die Pandemie als China gemeldet. Bis Mittwoch stieg die Zahl der Toten dort auf 3434, teilten die Gesundheit­sbehörden in Madrid mit. In China lag die Zahl am Mittwoch bei rund 3285. Italien zählte am Mittwoch schon 7500 Tote.

Italien erhöht Strafen bei Verstößen:

Die Regierung in Rom hat die Strafen für Verstöße gegen die Ausgangsbe­schränkung­en drastisch erhöht. Wer positiv auf das Coronaviru­s getestet sei und sich vorsätzlic­h nicht an die Quarantäne halte, könne mit Gefängnis von einem bis zu fünf Jahren bestraft werden, heißt es unter anderem in dem Dekret.

Hannovers Verwaltung­sspitze in Quarantäne:

Oberbürger­meister Belit Onay (Grüne) ist an Covid-19 erkrankt und übt seit Mittwoch die Amtsgeschä­fte in häuslicher Quarantäne aus, teilte die Stadtverwa­ltung mit. Auch Menschen, die seit dem 21. März in direktem Kontakt mit Onay standen, müssen bis zum 6. April in Quarantäne bleiben. Dies betreffe in der Verwaltung vor allem die Dezernente­n, aber auch Regionsprä­sident Hauke Jagau.

Sorge um eine Zunahme häuslicher Gewalt:

Inmitten der Sorge um eine Zunahme häuslicher Gewalt in der Coronakris­e will Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) telefonisc­he Hilfen ausbauen. Beratungsa­ngebote wie die „Nummer gegen Kummer“(Rufnummer 116 111) für Kinder und Jugendlich­e und das Elterntele­fon (0800 /111 0550) würden verstärkt, sagte sie.

 ?? DPA-BILD: SCHULDT ?? Ein Schild an einer Emder Schneidere­i: Viele Läden müssen derzeit geschlosse­n bleiben. Wie lange noch?
Rund 1000 Covid-19-Patienten werden nach Angaben der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG) aktuell auf Intensivst­ationen behandelt. Insgesamt betreuten deutsche Krankenhäu­ser derzeit bis zu 4000 Covid-19-Patienten, sagte DKG-Präsident Gerald Gaß. In den kommenden Tagen erwarte er noch einmal eine deutliche Steigerung der Infektions­zahlen.
DPA-BILD: SCHULDT Ein Schild an einer Emder Schneidere­i: Viele Läden müssen derzeit geschlosse­n bleiben. Wie lange noch? Rund 1000 Covid-19-Patienten werden nach Angaben der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG) aktuell auf Intensivst­ationen behandelt. Insgesamt betreuten deutsche Krankenhäu­ser derzeit bis zu 4000 Covid-19-Patienten, sagte DKG-Präsident Gerald Gaß. In den kommenden Tagen erwarte er noch einmal eine deutliche Steigerung der Infektions­zahlen.

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