Ruf nach Kurswechsel wird lauter
Wirtschaftsvertreter und Politiker plädieren für schrittweise Lockerungen nach Ostern
Die Bundesregierung sieht vorerst keinen Anlass für Änderungen. Auch die IG Metall Küste warnt vor vorschnellen Äußerungen.
BERLIN/OLDENBURG – Wie lange lassen sich die Beschränkungen durchhalten? Welche Folgen hat die wirtschaftliche Talfahrt für das Land? Der Ruf nach einem Kurswechsel und einer Exit-Strategie in der Coronakrise wird lauter. „Für viele Unternehmen ist schon jetzt die Grenze erreicht“, sagt Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann am Mittwoch gegenüber unserer Redaktion.
Die Sorge des CDU-Politikers: Die deutsche Volkswirtschaft werde erheblichen Schaden erleiden, der über Jahrzehnte nicht mehr aufgeholt werden könne. Spätestens in zwei Wochen, nach Ostern, müsse die Wirtschaft wieder anlaufen. Er plädiert dann für eine schrittweise Lockerung der Beschränkungen. Die Zeit bis Ostern solle genutzt werden, um das Gesundheitssystem besser auf die Epidemie vorzubereiten.
Maximal zwei Monate
Eine lange und tiefe Rezession wegen der Corona-Pandemie würde zu einer eine Welle von Insolvenzen und hoher Arbeitslosigkeit führen. Darin sind sich die Experten einig. „Ein oder zwei Monate sind möglich, danach wird es kritisch“, sagt etwa Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Die wirtschaftlichen Folgen dürften selbst dann noch gewaltig sein. Das Münchener
Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaftsleistung als Folge der Coronakrise von sieben bis zu elf Prozent zurückgehen könne, sollten die Betriebe zwei Monate stillstehen. Bis zu 1,4 Millionen Vollzeitjobs könnten so verloren gehen.
Die Folgen der Corona-Pandemie könnten Deutschland bis zu 729 Milliarden Euro kosten. Dies würde voraussichtlich alles übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt sei, erklärt ifo-Präsident Clemens Fuest.
„Der Grundgedanke, dass man sich darauf vorbereitet, die Wirtschaft möglichst schnell wieder anzufahren, ist völlig richtig“, meint daher auch Thomas Hildebrandt, Hauptgeschäftsführer der Oldenburgischen Industrie- und Handelskammer (IHK), gegenüber unserer Zeitung. Das sei vor allem auch deshalb wichtig, um Lieferketten – nicht zuletzt auch für lebenswichtige Produkte – aufrecht zu erhalten. Allerdings schränkt er ein: „Das Ganze muss natürlich an die Rahmenbedingung geknüpft sein, dass die Pandemie-Situation dies auch zulässt.“
Auch FDP-Chef Christian Lindner fordert eine Exit-Strategie. Am Mittwoch im Bundestag trugen die Liberalen das Hilfspaket und den Nachtragshaushalt mit RekordNeuverschuldung
zwar mit. Man frage sich jedoch zugleich, wie lang Ausgangsbeschränkungen und andere Maßnahmen noch nötig seien und was getan werde, um sie entbehrlich zu machen.
„Gesundheit geht vor“
Andere warnen hingegen vor vorschnellen Entscheidungen. „Die Gesundheit der Beschäftigten geht vor“, betont Daniel Friedrich, Bezirksleiter IG Metall Küste. Deshalb müsse jetzt alles getan werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. „Wann der richtige Zeitpunkt ist, die Wirtschaft wieder hochzufahren, ist vom weiteren Verlauf der Epidemie abhängig“, sagt der Gewerkschafter. Vorschnelle Äußerungen würden da nicht weiterhelfen.
„Wir müssen erstmal die Ausbreitung des Virus verlangsamen, um möglichst viele Menschenleben zu retten“, meint auch Marco Trips, Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes. Erst wenn man da weiter sei, „können und müssen wir mit der gebotenen Vorsicht die Wirtschaft wieder in Gang bringen“.
Auch die Bundesregierung sieht vorerst keinen Anlass für Lockerungen der Corona-Krisenmaßnahmen. „Wir befinden uns immer noch am Anfang einer Epidemie“, sagt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums am Mittwoch.
Die aktuellen Zahlen aus aller Welt:
Weltweit zählte die Johns-Hopkins-Universität (Baltimore) am Mittwoch mehr als 454 000 CoronaFälle. Davon sind mehr als 113 000 Patienten genesen und mehr als 20 500 verstorben. Nach Italien hat nun auch Spanien mehr Todesfälle durch die Pandemie als China gemeldet. Bis Mittwoch stieg die Zahl der Toten dort auf 3434, teilten die Gesundheitsbehörden in Madrid mit. In China lag die Zahl am Mittwoch bei rund 3285. Italien zählte am Mittwoch schon 7500 Tote.
Italien erhöht Strafen bei Verstößen:
Die Regierung in Rom hat die Strafen für Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen drastisch erhöht. Wer positiv auf das Coronavirus getestet sei und sich vorsätzlich nicht an die Quarantäne halte, könne mit Gefängnis von einem bis zu fünf Jahren bestraft werden, heißt es unter anderem in dem Dekret.
Hannovers Verwaltungsspitze in Quarantäne:
Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) ist an Covid-19 erkrankt und übt seit Mittwoch die Amtsgeschäfte in häuslicher Quarantäne aus, teilte die Stadtverwaltung mit. Auch Menschen, die seit dem 21. März in direktem Kontakt mit Onay standen, müssen bis zum 6. April in Quarantäne bleiben. Dies betreffe in der Verwaltung vor allem die Dezernenten, aber auch Regionspräsident Hauke Jagau.
Sorge um eine Zunahme häuslicher Gewalt:
Inmitten der Sorge um eine Zunahme häuslicher Gewalt in der Coronakrise will Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) telefonische Hilfen ausbauen. Beratungsangebote wie die „Nummer gegen Kummer“(Rufnummer 116 111) für Kinder und Jugendliche und das Elterntelefon (0800 /111 0550) würden verstärkt, sagte sie.