MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
25. Fortsetzung
Die Vorstellungen im Versailles sind ein Triumph. Ganz New York will durch Édiths rosarote Brille sehen, nachdem es zuvor gebannt und erschaudernd in ihren Abgrund geblickt hat.
Das prominente Quartett hat sich im Waldorf Astoria versammelt, neugierig, wenn auch nicht zu offensichtlich beobachtet von den anderen einflussreichen Gästen. Unter riesigen Lüstern nimmt man seinen Tee zu dezenter Pianomusik, riesige Farne wedeln in der Luft der Heizungen, der Schachbrettboden ist blitzblank poliert. Kellner huschen hin und her, bringen Kübel mit Champagnerflaschen und Kannen frisch gebrühten Tees. Die riesigen Blumenbouquets verströmen den Duft einer Wiese, ohne zu aufdringlich zu sein. Obwohl die Tische im Tea Room sehr klein sind, vermitteln die Samtsessel mit den hohen Lehnen doch ein Gefühl von Diskretion. Hier starrt man nicht, man verlangt auch kein Autogramm, man nimmt höchstens zur Kenntnis, wer hier sonst noch sitzt. Im Fall von Josephine nicht gerade wohlwollend. Die skandalumwitterte Sängerin ist es gewohnt, sie stört sich nicht daran.
„Orson Welles sah gut aus gestern, nicht wahr?“, stellt sie fest. Das Gespräch der vier Frauen dreht sich um die vielen Prominenten, die sich bei Édiths Vorstellungen einfinden.
„Oh, ich würde furchtbar gern mal mit ihm drehen“, wirft Marlene ein.
„Was drehen?“, fragt Édith und zwinkert ihr zu.
Marlene lacht ihr tiefes, männermordendes Lachen. „Nur einen Film, Schatz. Er ist nicht gerade mein Typ. Orson wirkt auf mich immer wie ein schmollender, dicklicher Junge.“
„Ist er eigentlich noch mit Rita Hayworth verheiratet?“, will Josephine wissen und prüft die Etagere mit den kleinen Petits Fours und den Gurkensandwiches. Anscheinend schwankt man im Astoria noch unentschlossen zwischen heure du thé und high tea und kombiniert, typisch amerikanisch, einfach beides miteinander.
„Falls sie sich noch nicht gegenseitig umgebracht haben.“Marlene hat ein Sandwich gewählt und isst es zurückgelehnt in ihrem Sessel, die langen Beine übereinandergeschlagen.
„Habt ihr denn den letzten Film mit den beiden gesehen? Irgendetwas mit Shanghai …“Josephine reicht die Etagere weiter an Coco Chanel, die Älteste der Runde, die jedoch abwinkt. In ihrer weiten, luftigen Hose, dem typischen lose gegürteten Oberteil und mit dem Kurzhaarschnitt wirkt sie zwar Jahre jünger als ihre vierundsechzig, doch die stark geschminkten, nach oben gezogenen Augenbrauen verleihen ihrem Gesicht etwas Strenges und durchaus Altersgerechtes.
„Die Lady von Shanghai“, weiß Édith und nimmt sich eine Serviette und einen länglichen kleinen Kuchen mit Schokoglasur.
„Die Kritik hat ihn zerrissen.“Marlene lacht auf. „Ja, weil Rita darin die Haare kurz trägt. Man stelle sich vor: Die ›Liebesgöttin von Amerika‹ mit Kurzhaarfrisur!“
„Ich dachte, du wärst die Göttin?“, neckt Édith sie.
„Ah bon, aber wahrscheinlich nicht lieb genug. Außerdem haben die Amerikaner viele Götter“, erwidert die Freundin prompt. Darüber muss sogar Coco Chanel lächeln, die sich bislang zu*rückgehalten hat. Sie und Marlene sind nicht gerade beste Freundinnen, obwohl beide denselben Stil pflegen, sich in ihrer Art sogar ähneln. Édith nimmt an, dass das mit den Gerüchten zusammenhängt, dass Madame Chanel für die Nazis spionierte und Churchill zu einem Separatfrieden überreden sollte. Sie ist nach dem Krieg als Kollaborateurin verhaftet worden und lebt seitdem in der Schweiz, immer in Angst vor etwaigen Racheakten.
Nun ja, Kollaboration hatten sie Édith nach Kriegsende auch vorgeworfen, ihr ausgerechnet die Konzerte vor französischen Kriegsgefangenen zum Vorwurf gemacht. Hätte ihre Sekretärin Dédée sich nicht für sie verbürgt, es hätte schlecht um ihre Karriere gestanden. Nein, Édith kann Coco Chanel bis zu einem gewissen Grad verstehen.
Marlene und Josephine sind in dieser Hinsicht nicht annähernd so nachsichtig. Die ehemalige Deutsche, jetzt USStaatsbürgerin Marlene ist für ihren Einsatz für die amerikanischen Truppen gerade für die Medal of Freedom vorgeschlagen worden, den höchsten Orden, den ein Zivilist in
Amerika bekommen kann. Und die Ex-Amerikanerin, jetzt in Frankreich beheimatete Josephine, die für die Résistance gekämpft hat, wurde als Leutnant sogar in die französische Ehrenlegion aufgenommen.
Nun ja, es können eben nicht alle Heldinnen sein, denkt Édith, und apropos Heldinnen: „Warst du nicht auch mal die Lady von Shanghai, Marlene?“, erinnert sie sich.
„Ich war Shanghai Lily“, verbessert Marlene, „und wesentlich erfolgreicher als die Shanghai Lady.“
„Anscheinend waren deine Haare länger!“, wirft Josephine ein.
„Aber nicht viel. Dafür war mein Skript besser.“Marlene richtet sich auf, setzt beide Beine nebeneinander, wirft den Kopf in den Nacken und sagt mit ihrer tiefrauchigen Stimme, die laut und vernehmlich durch den ganzen Saal trägt: „It took more than one man to change my name to Shanghai Lily.“ Fortsetzung folgt