Nordwest-Zeitung

Wie die Boykott-Generation damals litt

Sportlern aus Bundesrepu­blik und DDR wurde 1980 und 1984 Olympiatei­lnahme verwehrt

- VON ULRIKE JOHN

Heike Drechsler sagte sich, sie sei noch jung und könne warten. Doch für andere Sportstars bedeutete der geplatzte Olympia-Traum das Karriereen­de.

FRANKFURT – Bei Waldemar Cierpinski flossen die Tränen, als 1984 Olympia begann und er zuhause im Wohnzimmer saß. „Am ersten Tag der Spiele in Los Angeles lief der FrauenMara­thon. Als ich diese Bilder sah, da musste ich den Fernseher ausmachen – und habe geheult. Das musste einfach raus“, sagt der heute 69-jährige Hallenser. Heike Drechsler schaute damals im Sportinter­nat in Jena Westfernse­hen. „Das war natürlich verboten, deshalb musste immer einer Wache halten. Und wir hatten so ein Grieselbil­d.“Marathonlä­ufer Cierpinski und Weitspring­erin Drechsler wären heute vielleicht sogar dreifache Olympiasie­ger – wenn die Boykotte nicht dazwischen gekommen wären.

Geplatzte Träume von Gold-Kandidaten – die gab es 1980 auch in der Bundesrepu­blik. Wie bei Heiner Brand, 1978 mit der Handball-Nationalma­nnschaft Weltmeiste­r. Oder bei Zehnkämpfe­r Guido Kratschmer. Der Mainzer hatte 1976 in Montreal Silber gewonnen, 1980 war er in der Form seines Lebens. Und dann erfuhr er auf dem Weg zum Meeting nach Götzis, dass die Sportler aus der Bundesrepu­blik nicht in Moskau teilnehmen. „Das war anfangs schon schlimm. Ich war am Tiefpunkt, aber sportlich absolut auf der Höhe“, sagt der 67-Jährige.

Im Juli nahm Kratschmer all seine psychische­n und physischen Kräfte zusammen: Im schwäbisch­en Bernhausen schaffte er mit 8649 Punkten einen Weltrekord. „Das war

brutal. Ich wollte zeigen, dass ich hätte Gold gewinnen können.“Bis heute nagt die Enttäuschu­ng der verpassten Spiele an Kratschmer. In der Verschiebu­ng von Olympia in Tokio sieht er „eine kleine Parallele. Diesmal sind alle betroffen. Aber es gibt ja die Aussicht auf 2021.“

So saß Kratschmer 1980 in Moskau auf der Tribüne und schrieb Kolumnen für das Magazin „Stern“– naja, er hatte einen Ghostwrite­r: „Das war wirklich eine merkwürdig­e Situation.“Die Supermächt­e des Kalten Krieges boykottier­ten 1980 und 1984 gegenseiti­g die Spiele im Land des Gegners.

Die USA weigerten sich, 1980 Sportler nach Moskau zu schicken. Grund war die sowjetisch­e Invasion in Afghanista­n. Erst die Bundesrepu­blik und vier Jahre später die DDR hingen mit drin.

Für Cierpinski, der 1976 und 1980 Marathon-Gold erobert hatte, brach im Mai 1984 eine Welt zusammen. Seine Karriere war praktisch in wenigen Sekunden beendet. Denn 1988 in Seoul wäre er 38 Jahre alt gewesen.

Auch für Marita Koch, bis heute die schnellste Frau über die Stadionrun­de, platzte der Traum abrupt. Bei der WM 1983 in Helsinki war die Rosto

ckerin mit dreimal Gold und einmal Silber noch die erfolgreic­hste Athletin. Dann kam der Schock. „Nach der tollen WM 1983 sollte 1984 eigentlich unser Jahr werden – das war dann nix: puff, peng und weg! Da kam erst mal die Wut hoch, Trauer und Fassungslo­sigkeit“, sagt die 63-Jährige.

Die Aussicht auf den Weltcup 1985 in Canberra kam dann wie eine Erlösung für viele um Olympia betrogene DDR-Leichtathl­eten. „Ich konnte dann schnell in den Modus „nach vorne“umschalten! Das war eine neue Motivation, eine Art Versöhnung, eine tolle Reise obendrein“, erklärte Koch, die 1980 bei den Boykott-Spielen in Moskau Gold über 400 Meter gewonnen hatte. „Und in Canberra bin ich dann zum ersten Mal die 400 Meter unter 48 Sekunden gelaufen.“47,60 – bis heute Weltrekord.

Drechsler sagte sich 1984: „Ich bin noch jung, ich habe die Zukunft vor mir. Aber vier Jahre warten – das war damals

Olympische Spiele sind das größte Sportereig­nis der Welt. Immer im Wechsel gibt es Sommerspie­le und Winterspie­le. Die Spiele, wie wir sie heute kennen, dachte sich der Franzose Pierre de Coubertin aus. 1896 fanden sie in Athen erstmals statt. Bereits vor mehr als 2700 Jahren gab es die Olympische­n Spiele der Antike. Die Wettkämpfe wurden damals am Ort Olympia in Griechenla­nd veranstalt­et.

trotzdem fürchterli­ch.“Die Thüringeri­n war damals schon mit 18 Weltmeiste­rin – unter ihrem Mädchennam­en Daute. Sie ahnte nicht, dass sie 1992 und 2000 für das geeinte Deutschlan­d Olympia-Gold holen würde. Heute tut ihr Malaika Mihambo leid, die nach ihrem WM-Triumph 2019 in der Sandgrube von Doha Weltmeiste­rin wurde – und als Titelfavor­itin für Tokio galt.

In der BRD gab es 1980 erst einen Boykottbes­chluss des Bundestage­s, dann die Entscheidu­ng des NOK-Präsidiums und das Votum der NOK-Mitglieder­versammlun­g am 15. Mai. Brand kann es bis heute nicht leiden, wenn sich Politiker in den Sport einmischen. „Da bin ich ein bisschen allergisch. Im Nachhinein waren wir der einzige große betroffene Bereich“, sagt der 67-jährige Ex-Bundestrai­ner. Auch für ihn war der Boykott eine „riesige Enttäuschu­ng. Ich war ohnehin sehr erschöpft, weil ich gerade mein Examen gemacht hatte“.

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ARCHIV-BILD:DPA Eröffnungs­feier 1980 in Moskau: 5000 Sportler bilden auf der Tribüne mit bunten Tüchern ein Bild des Bären „Mischa“, dem Maskottche­n der Spiele. erklärt Euch das Thema
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ARCHIVBILD: DPA Handballer Heiner Brand im Jahr 1982
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DPA-BILD: DEDERT Heike Drechsler bei Olympia im Jahr 2000
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