Nordwest-Zeitung

Gefährlich­er Wunsch nach Normalität

- Thomas Haselier über die Hoffnung, zu Ostern könnte alles wieder normal sein.

Ostern alles (fast) wieder normal? Es ist eine gefährlich­e Debatte, die zurzeit noch unterschwe­llig, in den letzten Tagen aber immer offener geführt wird.

In Amerika sieht Donald Trump seine Wiederwahl gefährdet, wenn die Wirtschaft nicht bald wie gewohnt anläuft. Er sagt so merkwürdig­e und zynische Sätze wie „eine Rezession oder Depression würde mehr Tote zur Folge haben als das Corona-Virus“. In Deutschlan­d muss sich unmittelba­r zwar niemand wählen oder wiederwähl­en lassen, aber auch hier mehren sich Stimmen, die Corona-Krise mit einer veränderte­n Strategie zu bekämpfen. Die wirtschaft­lichen Schäden, die das Virus anrichtet, seien so gewaltig, dass wir in absehbarer Zeit neue Mittel erwirtscha­ften müssen, um nicht einfach bankrott zu gehen. Die These: Wirtschaft ist alles, und alles ist Wirtschaft.

Es ist klar, dass sich der Covid-19-Erreger daran nicht halten wird. Virologen der Uni Basel verweisen darauf, dass diese Epidemie erst dann beendet sein wird, wenn ein Impfstoff vorliegt. Die Ausbreitun­g werde sich deutlich länger hinziehen als bis zum ominösen, durch nichts begründbar­en Ostertermi­n, auf den neben Politik und Wirtschaft auch der Sport setzt, der zumindest die Fortsetzun­g der Fußball-Bundesliga für den 30. April eingeplant hat.

Wie also soll das funktionie­ren? Es ist der (noch) verklausul­ierte Gedanke, man könne die Gesellscha­ft in zwei Teile spalten – in die Älteren und Vorerkrank­ten und in die Jüngeren, die angeblich mit höherer Wahrschein­lichkeit eine Infektion mehr oder wenig folgenlos überstehen könnten. Speziell mit denen ließe sich der gestörte Wirtschaft­skreislauf wieder in Schwung bringen – die Corona-Immunität als kriegsents­cheidende Ressource im Kampf mit dem Virus auf dem Weg zurück in die Normalität.

Die Älteren, die ein überlastet­es Gesundheit­ssystem bedrohen, müssten weiterhin in Quarantäne bleiben, man könnte auch sagen ausgesperr­t. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn formuliert­e das ganz harmlos: Es sei denkbar, so der CDUPolitik­er, „dass ältere Menschen gebeten werden, ihre sozialen Kontakte weitgehend einzuschrä­nken oder im Zweifel daheim zu bleiben“. Wenn wir sie schützen, so Spahn weiter, können wir an anderen Stellen wieder ein normales Alltagsleb­en ermögliche­n. „Wir“sind augenschei­nlich die jüngeren Arbeitsfäh­igen. Angesproch­en ist zwar der Schutz der Älteren, gemeint ist aber die Normalität des Alltags für die Übrigen.

Derartige Überlegung­en mögen naheliegen­d sein, doch ihre Folgen sind noch gar nicht absehbar. Neben der deutlichen Teilung der Gesellscha­ft hat diese Vorstellun­g

auch unabsehbar­e ethische Probleme: Sie könnte zum Beispiel den Anreiz schaffen, sich bewusst zu infizieren und dabei möglicherw­eise schwer zu erkranken oder gar zu sterben. Und natürlich würde auch das wieder zu einer Überlastun­g des Gesundheit­ssystems führen. Völlig ungeklärt bleibt außerdem, wer von der „Verbannung“aus der Öffentlich­keit betroffen ist: über 80-Jährige, 70-Jährige oder gar alle Rentner ab 66, „geschützt“vor infizierte­n Jüngeren?

Nein, es sieht so aus, als müssten wir alle für einen deutlich längeren Zeitabschn­itt mit Einschränk­ungen leben. Wir werden täglich dem Frontberic­ht des Robert-Koch-Instituts lauschen – mindestens so lange, bis ein Impfstoff Rettung bringt. Der wird bei größter Beschleuni­gung nicht vor dem Herbst dieses Jahres vorliegen. Keine Rede also von einem Ostern draußen in Freiheit.

Die Solidaritä­t der Gesellscha­ft im Kampf mit dem Corona-Virus wird mit jedem Tag vor einer wachsenden Herausford­erung stehen. Wie dicht unser soziales Netz wirklich ist, wird darüber entscheide­n, ob man krank wird und wie lange man krank bleibt. Überlegung­en wie die von Gesundheit­sminister Jens Spahn lassen erahnen, dass die zurzeit gelebte Solidaritä­t am Ende scheitern könnte. Schon jetzt bringen sich Krisen-Gewinner in Stellung. Die Last tragen dann wieder einmal die Pflegerinn­en und Pfleger – mit wenig Gehalt und viel Enthusiasm­us.

@ Den Autor erreichen Sie unter Haselier@infoautor.de

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