Gefährlicher Wunsch nach Normalität
Ostern alles (fast) wieder normal? Es ist eine gefährliche Debatte, die zurzeit noch unterschwellig, in den letzten Tagen aber immer offener geführt wird.
In Amerika sieht Donald Trump seine Wiederwahl gefährdet, wenn die Wirtschaft nicht bald wie gewohnt anläuft. Er sagt so merkwürdige und zynische Sätze wie „eine Rezession oder Depression würde mehr Tote zur Folge haben als das Corona-Virus“. In Deutschland muss sich unmittelbar zwar niemand wählen oder wiederwählen lassen, aber auch hier mehren sich Stimmen, die Corona-Krise mit einer veränderten Strategie zu bekämpfen. Die wirtschaftlichen Schäden, die das Virus anrichtet, seien so gewaltig, dass wir in absehbarer Zeit neue Mittel erwirtschaften müssen, um nicht einfach bankrott zu gehen. Die These: Wirtschaft ist alles, und alles ist Wirtschaft.
Es ist klar, dass sich der Covid-19-Erreger daran nicht halten wird. Virologen der Uni Basel verweisen darauf, dass diese Epidemie erst dann beendet sein wird, wenn ein Impfstoff vorliegt. Die Ausbreitung werde sich deutlich länger hinziehen als bis zum ominösen, durch nichts begründbaren Ostertermin, auf den neben Politik und Wirtschaft auch der Sport setzt, der zumindest die Fortsetzung der Fußball-Bundesliga für den 30. April eingeplant hat.
Wie also soll das funktionieren? Es ist der (noch) verklausulierte Gedanke, man könne die Gesellschaft in zwei Teile spalten – in die Älteren und Vorerkrankten und in die Jüngeren, die angeblich mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Infektion mehr oder wenig folgenlos überstehen könnten. Speziell mit denen ließe sich der gestörte Wirtschaftskreislauf wieder in Schwung bringen – die Corona-Immunität als kriegsentscheidende Ressource im Kampf mit dem Virus auf dem Weg zurück in die Normalität.
Die Älteren, die ein überlastetes Gesundheitssystem bedrohen, müssten weiterhin in Quarantäne bleiben, man könnte auch sagen ausgesperrt. Bundesgesundheitsminister Spahn formulierte das ganz harmlos: Es sei denkbar, so der CDUPolitiker, „dass ältere Menschen gebeten werden, ihre sozialen Kontakte weitgehend einzuschränken oder im Zweifel daheim zu bleiben“. Wenn wir sie schützen, so Spahn weiter, können wir an anderen Stellen wieder ein normales Alltagsleben ermöglichen. „Wir“sind augenscheinlich die jüngeren Arbeitsfähigen. Angesprochen ist zwar der Schutz der Älteren, gemeint ist aber die Normalität des Alltags für die Übrigen.
Derartige Überlegungen mögen naheliegend sein, doch ihre Folgen sind noch gar nicht absehbar. Neben der deutlichen Teilung der Gesellschaft hat diese Vorstellung
auch unabsehbare ethische Probleme: Sie könnte zum Beispiel den Anreiz schaffen, sich bewusst zu infizieren und dabei möglicherweise schwer zu erkranken oder gar zu sterben. Und natürlich würde auch das wieder zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen. Völlig ungeklärt bleibt außerdem, wer von der „Verbannung“aus der Öffentlichkeit betroffen ist: über 80-Jährige, 70-Jährige oder gar alle Rentner ab 66, „geschützt“vor infizierten Jüngeren?
Nein, es sieht so aus, als müssten wir alle für einen deutlich längeren Zeitabschnitt mit Einschränkungen leben. Wir werden täglich dem Frontbericht des Robert-Koch-Instituts lauschen – mindestens so lange, bis ein Impfstoff Rettung bringt. Der wird bei größter Beschleunigung nicht vor dem Herbst dieses Jahres vorliegen. Keine Rede also von einem Ostern draußen in Freiheit.
Die Solidarität der Gesellschaft im Kampf mit dem Corona-Virus wird mit jedem Tag vor einer wachsenden Herausforderung stehen. Wie dicht unser soziales Netz wirklich ist, wird darüber entscheiden, ob man krank wird und wie lange man krank bleibt. Überlegungen wie die von Gesundheitsminister Jens Spahn lassen erahnen, dass die zurzeit gelebte Solidarität am Ende scheitern könnte. Schon jetzt bringen sich Krisen-Gewinner in Stellung. Die Last tragen dann wieder einmal die Pflegerinnen und Pfleger – mit wenig Gehalt und viel Enthusiasmus.
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