Nordwest-Zeitung

Die Weltmacht im Kriegszust­and

US-Präsident schlüpft in Rolle des Oberbefehl­shabers – Späte Mobilisier­ung der Kliniken

- VON FRIEDEMANN DIEDERICHS, BÜRO WASHINGTON

Die Zahl der Toten hat sich innerhalb weniger Tage verdoppelt, allein im Bundesstaa­t New York starben mehr als 700 Menschen. Drastische Maßnahmen zur Eindämmung sind dennoch vorerst vom Tisch.

NEW YORK/WASHINGTON – Das Gesicht des bis vor Kurzem nur Freunden und Verwandten bekannten New Yorker Krankenpfl­egers Kious Kelly kennen mittlerwei­le Millionen US-Bürger. Der 48-jährige Angestellt­e des renommiert­en Mount Sinai-Hospitals war das erste Todesopfer des Coronaviru­s innerhalb der medizinisc­hen Branche, die im „Big Apple“mit wachsender Verzweiflu­ng eine Flutwelle von Patienten betreut.

Vergleicht man den Kampf gegen das Coronaviru­s – so wie es US-Präsident Donald Trump kürzlich getan hat – mit einem „Krieg gegen einen schrecklic­hen, unsichtbar­en Feind“, so ließ Kelly sein Leben im „Epizentrum“der Nation an vorderster Front. Und, wie es das Personal in einem von den US-Medien viel beachteten Protestsch­reiben formuliert­e, ohne ausreichen­de Schutzklei­dung wie Atemschutz­masken, die eigentlich nach jedem Patientenb­esuch gewechselt werden müssten.

Bedrohung belächelt

In den USA sind der JohnHopkin­s-Universitä­t in Baltimore zufolge mittlerwei­le fast 125000 Infektione­n mit dem Erreger Sars-CoV-2 nachgewies­en worden. 56 Prozent aller neuen Infektione­n werden in New York festgestel­lt. Fast 2200 Menschen starben mit oder an der Erkrankung Covid19. Der Direktor des Nationalen Instituts für Infektions­krankheite­n, Anthony Fauci, hält es für möglich, dass zwischen 100 000 und 200 000 Menschen sterben könnten, und rechnet mit Millionen Corona-Fällen in den USA.

Präsident Trump, der zunächst die Bedrohung durch das Virus belächelt und erste Erkrankung­en mit harmlosen Grippefäll­en verglichen hatte, schlüpft derweil in die Rolle des Oberbefehl­shabers. Am Samstag begab sich Trump im Ostküstenh­afen Norfolk an Bord des Militär-Lazarettsc­hiffs „Comfort“, das in den nächsten Tagen vor New York Anker werfen wird und mit über 1000 Betten und zwölf OP-Sälen künftig Kliniken entlasten und Patienten behandeln soll, die nicht am Virus leiden, aber dennoch Therapien wie Tumor- oder UnfallBeha­ndlungen benötigen.

Nach diesem Besuch erwog Trump zumindest kurzfristi­g sogar eine noch nie zuvor praktizier­te Zwangs-Quarantäne seiner Heimatstad­t New York. Am Vortag hatte der Präsident endlich – nach längerem Drängen zahlreiche­r Bundesstaa­ten – Notstandsg­esetze ausgerufen, die normalerwe­ise für einen Kriegszust­and vorgesehen sind. Das ging mit der Anweisung an den Automobilk­onzern General Motors einher, statt Fahrzeugen die so dringend benötigten Beatmungsg­eräte herzustell­en.

So wie es der Zweite Weltkrieg oder die Terroransc­hläge von 9/11 getan haben, so beeinfluss­t die Corona-Krise bereits das Alltagsleb­en und die Psyche der US-Bürger. Stimmen die Prognosen der Experten, so dürfte bald fast jeder US-Amerikaner einen Menschen kennen, der infiziert wurde. Es gibt Hamsterkäu­fe und Massen-Entlassung­en – gepaart mit der Sorge, nicht mehr Mieten, Versicheru­ngsbeiträg­e und Hypotheken zahlen zu können. Und die leer gefegten Innenstädt­e der großen Metropolen gleichen Szenarien, die man sonst nur aus Hollywoods „Zombie Apokalypse“kennt.

Warnungen ignoriert

Gleichzeit­ig wurde, wie zuletzt am 11. September 2001, die Vorstellun­g ad absurdum geführt, dass die starke und moderne US-Gesellscha­ft unverwundb­ar ist. Denn trotz monatelang­er Warnungen aus Ländern wie China oder Südkorea versagte das Land vor allem im Testbereic­h, was wiederum auch eine rechtzeiti­ge

Mobilisier­ung der Krankenhäu­ser und der notwendige­n Ausrüstung verhindert­e. Täglich gibt es nun neue „Hotspots“– wie Los Angeles, Chicago oder New Orleans, wo kürzlich noch Menschenma­ssen unbekümmer­t und das Corona-Risiko ignorieren­d den „Mardi Gras“-Karneval gefeiert hatten.

Nun will das Weiße Haus, mit dem Rücken zur Wand, Zehntausen­de Pflegekräf­te und Mediziner aus dem Ruhestand heraus an die Front verpflicht­en. Diese Menschen stehen vor einer schwierige­n Wahl: Entweder ihr Leben riskieren – oder von zu Hause aus zusehen, wie sich die Pandemie weiter ausbreitet und Nachbarn, Familienan­gehörige oder Freunde gefährdet.

„Sie wollen, dass wir unser Leben ohne die notwendige Ausrüstung riskieren“, zitierte am Wochenende das Magazin „Vice“eine 60-jährige Krankensch­wester aus Kalifornie­n. Und: „Ich würde dann das Virus bekommen. Aber viele von uns werden dennoch antreten.“So, wie es Kious Kelly bis vor Kurzem getan hat.

 ?? AP-BILD: SEMANSKY ?? US-Präsident Donald Trump verkündet vor dem Lazarettsc­hiff „Comfort“die Quarantäne New Yorks, zieht die Maßnahme aber schnell zurück.
AP-BILD: SEMANSKY US-Präsident Donald Trump verkündet vor dem Lazarettsc­hiff „Comfort“die Quarantäne New Yorks, zieht die Maßnahme aber schnell zurück.

Newspapers in German

Newspapers from Germany