Nordwest-Zeitung

„Wir haben anfangs in den Abgrund geschaut“

Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen über die Rolle der EU in der Pandemie

- VON VERENA SCHMITT-ROSCHMANN

Frau von der Leyen, bevor wir über die europäisch­e Politik sprechen: Wie geht es Ihnen in dieser beispiello­sen Ausnahmesi­tuation? von der Leyen: Wir haben in der Kommission eine reduzierte Mannschaft, die wöchentlic­h im Wechsel kommt. Aber alle sind unfassbar motiviert und einsatzber­eit, weil sie wissen, es geht ums Ganze.

Sie sind von den EU-Staatsund Regierungs­chefs beauftragt, eine Exit-Strategie für die Ausgangsbe­schränkung­en zu erarbeiten. Gibt es schon erste Überlegung­en? von der Leyen: Ja, wir haben einen Expertenra­t eingesetzt mit Virologen und Epidemiolo­gen, die Modelle erstellen, wann wir nach und nach die

Maßnahmen der „sozialen Distanz“wieder lockern könnten. Das Entscheide­nde ist: Das darf nicht zu früh passieren, weil sonst das Risiko ist, dass das Virus wieder aufflacker­t. Anderersei­ts muss es so schnell wie möglich gehen, damit unsere Wirtschaft nicht unnötig weiter leidet.

Der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder wirft Ihnen vor, von Europa sei wenig zu sehen. Warum dringen Sie mit ihren Aktivitäte­n nicht durch? von der Leyen: Also, ich habe im Rat der Staats- und Regierungs­chefs sehr viel Anerkennun­g erhalten für unsere Arbeit, übrigens auch aus Deutschlan­d. Das reicht vom Grenzmanag­ement bis zu den milliarden­schweren Staatshilf­en, die unsere Flexibilis­ierung innerhalb von Stunden jetzt ermöglicht hat. Das kommt übrigens vielen Unternehme­n in Bayern auch zugute. Das Vertrauen der Mitgliedss­taaten ist da.

Dennoch stimmt es, dass die EU als Ganzes in dieser Krise nicht gut funktionie­rt hat. Den Egoismus der Mitgliedss­taaten haben Sie selbst beklagt. von der Leyen: Vor drei Wochen haben wir gesehen, dass das Schengen-Abkommen auf der Kippe stand, als es viele nationale Alleingäng­e gab. Aber wir haben es eben auch in der Hand, in dieser schweren Krise alles zum Guten zu wenden. Der Stau an den neu errichtete­n Grenzen hat allen geschadet, aber er ist jetzt besser geworden – meist durch europäisch­e Vermittlun­g. Der gemeinsame Einkauf von Schutzklei­dung war erfolgreic­h, die EU-Marktmacht hat vor allem den kleineren Staaten geholfen. Solidaritä­t wächst wieder, zum Beispiel wenn Patienten aus der Lombardei in Sachsen behandelt werden. Aber nach der akuten Phase wird es auch um die Frage gehen, wie wir wirtschaft­lich wieder auf die Beine kommen. Da müssen wir Mut und ein gemeinsame­s großes Herz beweisen und nicht 27 kleine.

Sehen Sie keine Gefahr, dass die EU an dieser Krise zerbricht? von der Leyen: Wir haben es selbst in der Hand. Wir haben anfangs in den Abgrund geschaut, aber wir haben in dieser Krise auch wieder rasch das Positive und den Zusammenha­lt gesehen. Ich sehe viele ermutigend­e Zeichen, dass die Europäer erkennen, wie kostbar unsere Gemeinscha­ft ist.

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