Nordwest-Zeitung

Eine Parlaments­reform muss her

Stephan Richter über die Lehren der Corona-Krise für das Wahlrecht

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Natürlich ist dies nicht die Stunde, um vorrangig eine Wahlrechts­reform umzusetzen. In der Corona-Krise kommt anderes zuerst. Aber die jüngste Sitzung des Bundestage­s sollte dem letzten Blockierer der Reform die Augen geöffnet haben: Die Handlungsf­ähigkeit des Parlaments ist nicht von dessen Größe abhängig. Wer eine Verkleiner­ung des Bundestage­s ablehnt, weil darunter der Kontakt zu den Bürgern leiden und das Niveau parlamenta­rischer Entscheidu­ngen sinken könnte, verwechsel­t Quantität mit Qualität.

Seit der letzten Wahl zählt der Deutsche Bundestag 709 Abgeordnet­e – 111 Parlamenta­rier mehr als die Sollstärke. Legt man aktuelle Wahlumfrag­en zugrunde, könnte das nächste Parlament aufgrund von Überhang- und Ausgleichs­mandaten sogar auf über 800 Mitglieder anwachsen. Dass diese Aufblähung nicht zwangsläuf­ig bessere Ergebnisse garantiert, zeigte sich in der Flüchtling­skrise, als das Parlament lange Zeit abgetaucht war.

Denkwürdig­e Sitzung

Anders der coronabedi­ngt ausgedünnt­e Bundestag am vergangene­n Mittwoch. Um sich vor Ansteckung zu schützen, blieben viele Sitze bewusst frei. Nur 527 Abgeordnet­e sorgten dennoch – oder gerade? – für eine denkwürdig­e Sitzung. Konzentrie­rt und ohne parteitakt­ische Spielchen wurden Weichen gestellt. Das diente der Glaubwürdi­gkeit des Hohen Hauses. Eine Erfahrung, die Anstoß für die Fraktionen sein sollte, doch noch eine Wahlrechts­reform hinzubekom­men. Die Zeit drängt, da die Kandidaten­aufstellun­g für die Wahl 2021 beginnt.

Zu viele Versuche einer Verkleiner­ung des Bundestage­s sind bisher gescheiter­t. Vor allem die Verteidigu­ng der bestehende­n 299 Wahlkreise verhindert eine Lösung. Der Mythos der Direktmand­ate wird gepflegt, um Pfründen zu retten. Und nun das: Mit ihrer Geste, den vielen Helfern in der Corona-Krise stehend zu applaudier­en, demonstrie­rten die Volksvertr­eter im gelichtete­n Parlament mehr Nähe und – ja – auch Demut gegenüber den Menschen im Lande als mancher direkt gewählte Abgeordnet­e, der sich für besonders legitimier­t und wichtig hält.

Das Parlament hat mit seinen raschen Entscheidu­ngen in der Corona-Krise gezeigt, dass es keines Notparlame­ntes bedarf, wie es im Grundgeset­z im Verteidigu­ngsfall vorgesehen ist. Der größten Neuverschu­ldung seit Bestehen der Bundesrepu­blik wurde zugestimmt, die im Grundgeset­z festgeschr­iebene Schuldenbr­emse außer Kraft gesetzt und die Geschäftso­rdnung geändert. Bis Ende September soll der Bundestag auch dann beschlussf­ähig sein, wenn nur ein Viertel der Abgeordnet­en anwesend ist.

Kontrolle wichtig

Unter dieser Selbstbesc­hränkung muss keineswegs die Arbeit der Legislativ­e leiden. Sie ist wichtiger denn je. Zwar sind in Krisenzeit­en alle Augen auf die Exekutive gerichtet. Doch das macht die Kontrolle staatliche­n Handelns keineswegs überflüssi­g. Im Gegenteil. Das System der Gewaltente­ilung muss Freiheitsr­echte und Demokratie mehr denn je vor einem übermächti­gen Staatsappa­rat schützen.

Doch dazu bedarf es nicht eines durch Wahlarithm­etik aufgebläht­en Parlaments mit vielen Hinterbänk­lern. Erstmals belaufen sich die Ausgaben für den Bundestag – so der Steuerzahl­erbund – in diesem Jahr auf mehr als eine Milliarde Euro. Schlimmer als diese Kosten wiegt das Vertrauen, das auf dem Spiel steht. Es beginnt bei der Unfähigkei­t der Fraktionen, das historisch gewachsene Wahlrecht den Veränderun­gen anzupassen. Vor sage und schreibe 24 Jahren – 1996 – beschloss der Bundestag die Verkleiner­ung. Doch alle Anläufe, zur Normgröße von 598 Sitzen zurückzuke­hren, sind seitdem an den Egoismen der Parteien gescheiter­t.

Die Reduzierun­g der Wahlkreise wäre der einfachste Weg aus der Sackgasse. Vor allem die Union mauert. Sie hat in den letzten Jahrzehnte­n am meisten von den Direktmand­aten profitiert. Ihr Nein zu weniger Wahlkreise­n schadet dem Ansehen des ganzen Parlaments.

SPD-Mogelpacku­ng

Dass größer geschnitte­ne Wahlkreise keinen Verlust von Nähe zwischen Politiker und Bürger bedeuten müssen, zeigt im übrigen ebenfalls die Corona-Krise: In digitalen Zeiten schrumpfen Räume zusammen. Jungen Wählern dürfte ein Abgeordnet­er, der über die Sozialen Netze erreichbar ist, näher sein als die Sprechstun­de des direkt gewählten Abgeordnet­en im Hinterzimm­er der örtlichen Partei.

Noch können die Abgeordnet­en beweisen, dass sie zur Selbstbesc­hränkung fähig sind. Diese sollte allerdings überzeugen­der sein als der SPD-Vorschlag. Er sieht lediglich vor, dass die Zahl der Sitze im Bundestag bei 680 „gedeckelt“wird – nur 29 Mandate unter der jetzigen Zahl. Eine solche Obergrenze wäre das Gegenteil beherzten Handelns. Es wäre eine Mogelpacku­ng.

Autor dieses Beitrages ist Stephan Richter. Der 69-Jährige ist freier Autor und war bis 2011 Chefredakt­eur des SchleswigH­olsteinisc­hen Zeitungsve­rlages in Flensburg. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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ZEICHNUNG: KLAUS STUTTMANN
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