Von der Einsicht in die Bedrohung
Was wir aus Zeiten von Aids für das gegenwärtige Corona-Infektionsrisiko lernen können
Die Reaktionen auf die Corona-Krise vonseiten des Staates sowie der verschiedenen Bevölkerungs- bzw. Altersgruppen und der publizistischen Medien erinnern daran, wie Mitte der 90er Jahre vergleichbar diskutiert wurde, als eine medizinische Lösung des Aids-Infektionsrisikos nicht in Sicht war.
Es versteht sich, dass die Erkenntnisse einer damals an der Oldenburger Carl von Ossietzky Universität durchgeführten empirischen Studie über Aids-Prävention im Auftrag des früheren Bundesministeriums für Familie und Gesundheit nicht eins zu eins übertragbar sind. Aber es gibt eine Reihe von Befunden, die dazu beitragen können, Probleme der gegenwärtigen Situation kritisch einzuschätzen.
Gefühlte Unsicherheit
Folgendes hat sich damals gezeigt: Erstens hing das Gefühl der Unsicherheit nicht vom realen Infektionsrisiko ab. Vielmehr war das Bedrohtheitsgefühl dem Umfang und der Dichte medialer Berichterstattung geschuldet. ZweiMaßnahmen tens: nur eine strikt sachorientierte, entdramatisierende Berichterstattung hat angstreduzierend gewirkt. Sie hat es erlaubt, statt emotional gesteuerter Kurzschlussreaktionen rationale Entscheidungen zu treffen und so selbstbestimmte Verhaltensweisen im Hinblick auf Risiken zu entwickeln.
Drittens gab es eine Kluft zwischen dem, was man über das Infektionsrisiko zu wissen glaubte und dem tatsächlichen Verhalten im Alltag. Dieses Gefälle hat sich deutlich auch zu Beginn der Corona-Pandemie gezeigt, als selbst die Solidaritäts-Appelle der Bundeskanzlerin, das eigene alltägliche Verhalten auf die Risiken einzustellen, beispielsweise die Wohnung nur für notwendige Einkäufe und
Arztbesuche zu verlassen oder auf Hamsterkäufe zu verzichten, zunächst kaum gefruchtet hatten.
Zu verallgemeinernd
Daraus ist zu schlussfolgern, das allgemein gehaltene Aufrufe, Gefahrenhinweise, allein unzureichend sind: Die über Informiertheit hinausgehende Motivation, präventiv zu handeln, beispielsweise Freiheitsbeschränkungen ins eigene Handeln umzusetzen, entsteht vor allem dann, wenn man Gelegenheit hatte, sich in allen Details zu überzeugen, dass die angeführten Gründe zur Selbstverpflichtung einleuchtend sind.
Die von den Medien vermittelten und transparent gemachten öffentlichen Auseinandersetzungen auf dem Forum der Politik und die rationalen Begründungen von epidemiologisch geforderten
durch Virologen und Ärzte wie die ShutdownStrategie oder das Social Distancing, diese Informationsstrategien sind in demokratischen Gesellschaften zwingend und hilfreich. Breit gestreute Aufklärungsprozesse über Medien und durch andere Institutionen, natürlich auch der Rat wissenschaftlicher Experten etc., all dies sind zentrale Bedingungen, um zu Einsichten im Hinblick auf das gemeinsame Wohl zu kommen. Hingegen werden Dekrete und administrative Sanktionen als eine Androhung erlebt, die äußerlich bleiben, sie sind mit einer verinnerlichten Selbstbindung auf dem Boden von Einsicht und Empathie nicht vergleichbar.
Wichtiger für heute dürfte ein weiteres Forschungsergebnis der damaligen Untersuchung sein, nämlich, dass die Definition von Risikogruppen höchst problematisch ist, weil auf diese Weise ein simples Schwarz-Weiß-Denken befördert wird mit der Folge von Stigmatisierungen. Was in diesen Tagen aufgrund virologischer Empfehlungen im Fachchinesisch etwa als Cocooning erörtert wird, also die Isolierung der stark gefährdeten Bevölkerungsgruppen, beinhaltet Praktiken der Normierung und Regulierung, der Überwachung und Sozialkontrolle, die das Schreckbild einer „Disziplinargesellschaft“(Michel Foucault) wachrufen.
Diffuse Ängste
Die diffusen Ängste, die durch jene exekutiv verfügten gesundheitspolitischen Maßnahmen ausgelöst werden, bergen die Möglichkeit in sich, auch auf Freiheitsrechte zu verzichten, die gar nicht mit der notwendigen Bekämpfung der vom Coronavirus verursachten Lungenkrankheit Covid-19 zu tun haben.
Es wäre verfehlt, wenn die Exekutive, sei es auch das Ministerium für Gesundheit, sich auf einen Ausnahmezustand beriefe, der dann, wenn die zeitliche Begrenzung außer Acht bliebe, zur Normalität würde. Gerade in Krisenzeiten müssen Grund- und Staatsbürgerrechte ebenso erhalten bleiben wie die demokratischen Regularien des Parlamentarismus.