Sind Pflegekräfte nun potenzielle Straftäter?
Ambulanter Dienst schlägt wegen fehlendem Schutz Alarm – Oldenburger Anwälte erklären die Rechtslage
Die Pflegekräfte befinden sich aktuell im Zwiespalt: Sollen sie die Arbeit einstellen oder eine Ansteckung riskieren?
OLDENBURG – „Feuerwehrleute gehen nicht ohne Schutzausrüstung ins Feuer, die Polizei trägt Helm und Körperschutz, aber von Pflegenden wird verlangt, dass sie sich der unsichtbaren Gefahr ohne Schutzmaske und Schutzkittel stellen sollen.“Diese Kritik kommt von Nadya Klarmann, Präsidentin der Niedersächsischen Pflegekammer. Es bestehe ein unkalkulierbares Infektionsrisiko, insbesondere auch in der ambulanten Versorgung, sagte sie am Montag.
Martin Scheibert, stellvertretender Geschäftsführer des ambulanten Pflegedienstes „Amadeus – Pflege mit Empathie“in Oldenburg, sieht das ähnlich. „Unsere Pflegekräfte sind alle fleißig wie die Bienen, aber ohne vollständige Schutzausrüstung wirken sie auch wie die Bienen und verbreiten so das Pandemie-Risi
täglich allein in Oldenburg viele Tausend Male mehr“, weist er auf „Superverteiler“hin. In der Debatte gehe es meist um stationäre Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser: „Wir dürfen nicht vergessen werden.“
Schutzpflicht für alle
Der Zwiespalt: „Wir haben nicht genug Schutzausrüstung“, sagt Scheibert. „Eigentlich müssten wir alle Mitarbeiter nach Hause schicken.“Zu
dem hätten die Angestellten selbst ein Recht auf Schutz. Aber: „Wenn unsere Mitarbeiter aufhören, wer versorgt dann die Patienten? Es würde auf Vertragsbruch und schließlich sogar unterlassene Hilfeleistung hinauslaufen“, so Scheibert. Wenn sie nun unzulänglich geschützt weiterarbeiten würden, könnte es bei einer Ansteckung auf Körperverletzung mit eventueller Todesfolge hinauslaufen. „Es ist ein Konflikt – egal, was wir tun, sind wir potenzielle Strafko täter, solange wir nicht zuverlässig mit ausreichender Schutzkleidung ausgestattet sind“, sagt Scheibert. „Die Bereitschaft, die Dienste liegen zu lassen, steigt dramatisch.“
Wie sieht das Problem rechtlich betrachtet aus? Die Situation sei schwierig, da die ambulanten Dienste zwei Vertragspartner hätten: Diejenigen, die gepflegt werden, und die Arbeitnehmer, die es ebenfalls zu schützen gilt, sagt Claas Henkel, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Oldenburg. „Es bestehen gegenüber beiden Parteien Schutzpflichten, dazu gehört auch die Schutzausrüstung der Arbeitnehmer.“Hier stoße man aktuell an Grenzen. Normale Maßstäbe würden hier versagen. Am Ende käme es zu einer Abwägung eines Übels gegen das andere.
Grundsätzlich müsse die Grundsicherheit der Mitarbeitenden gewährleistet sein. Doch aktuelle Fälle wie in Wolfsburg, wo positiv getestete Mitarbeiter positiv getestete Menschen pflegen, würden zeigen, dass Situationen, die im Normalfall kritisch betrachtet werden, im Einzelfall nun logisch erscheinen.
Konkreten Fall abwägen
Strafrechtlich gesehen komme bei jemanden, der wisse, dass er an Covid-19 erkrankt ist, und damit wissentlich andere Menschen anstecke, eine Körperverletzung in Betracht – gegebenenfalls auch vorsätzlich, erklärt Kim Müller, Oldenburger Fachanwalt für Strafrecht. „Das könnte dann sogar auf eine vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge hinauslaufen.“
Wenn jemand einen anderen unwissentlich anstecke, weil er selbst nicht wusste, dass er Covid-19 hat, ist er „mangels Vorsatzes straffrei“, sagt Müller. Etwas anderes gelte, wenn er hätte wissen können und müssen, dass er Corona habe, insbesondere bei den bekannten Krankheitssymptomen Husten und Fieber.
„Davon muss man die fahrlässige Körperverletzung abgrenzen“, sagt Müller. Wenn kein ausreichender Schutz bestehe, dürfe man im Zweifel selbst nicht helfen. Doch auch hier gebe es Ausnahmen, wie etwa die unterlassene Hilfeleistung. „Wenn Sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden, und der Mensch würde ohne Ihre Hilfe verhungern, ist es ein Rechtfertigungsgrund.“Man müsse immer den konkreten Fall abwägen. Spätestens bei einem kompletten Systemversagen, also wenn es keine andere Möglichkeit mehr gebe, weil alle Pfleger angesteckt seien, höre die Strafbarkeit auf.
Kleiner Lichtblick: Seit Ende vergangener Woche sei damit begonnen worden, knapp 20 Mio. Masken, 15 Mio. Handschuhe, 130 000 Schutzanzüge, 23 000 Schutzbrillen und 91 000 Liter Desinfektionsmittel an Länder und Kassenärztlichen Vereinigungen auszuliefern, so ein Bundesgesundheitsministeriums-Sprecher.