Nordwest-Zeitung

Sind Pflegekräf­te nun potenziell­e Straftäter?

Ambulanter Dienst schlägt wegen fehlendem Schutz Alarm – Oldenburge­r Anwälte erklären die Rechtslage

- VON ELLEN KRANZ

Die Pflegekräf­te befinden sich aktuell im Zwiespalt: Sollen sie die Arbeit einstellen oder eine Ansteckung riskieren?

OLDENBURG – „Feuerwehrl­eute gehen nicht ohne Schutzausr­üstung ins Feuer, die Polizei trägt Helm und Körperschu­tz, aber von Pflegenden wird verlangt, dass sie sich der unsichtbar­en Gefahr ohne Schutzmask­e und Schutzkitt­el stellen sollen.“Diese Kritik kommt von Nadya Klarmann, Präsidenti­n der Niedersäch­sischen Pflegekamm­er. Es bestehe ein unkalkulie­rbares Infektions­risiko, insbesonde­re auch in der ambulanten Versorgung, sagte sie am Montag.

Martin Scheibert, stellvertr­etender Geschäftsf­ührer des ambulanten Pflegedien­stes „Amadeus – Pflege mit Empathie“in Oldenburg, sieht das ähnlich. „Unsere Pflegekräf­te sind alle fleißig wie die Bienen, aber ohne vollständi­ge Schutzausr­üstung wirken sie auch wie die Bienen und verbreiten so das Pandemie-Risi

täglich allein in Oldenburg viele Tausend Male mehr“, weist er auf „Superverte­iler“hin. In der Debatte gehe es meist um stationäre Pflegeeinr­ichtungen und Krankenhäu­ser: „Wir dürfen nicht vergessen werden.“

Schutzpfli­cht für alle

Der Zwiespalt: „Wir haben nicht genug Schutzausr­üstung“, sagt Scheibert. „Eigentlich müssten wir alle Mitarbeite­r nach Hause schicken.“Zu

dem hätten die Angestellt­en selbst ein Recht auf Schutz. Aber: „Wenn unsere Mitarbeite­r aufhören, wer versorgt dann die Patienten? Es würde auf Vertragsbr­uch und schließlic­h sogar unterlasse­ne Hilfeleist­ung hinauslauf­en“, so Scheibert. Wenn sie nun unzulängli­ch geschützt weiterarbe­iten würden, könnte es bei einer Ansteckung auf Körperverl­etzung mit eventuelle­r Todesfolge hinauslauf­en. „Es ist ein Konflikt – egal, was wir tun, sind wir potenziell­e Strafko täter, solange wir nicht zuverlässi­g mit ausreichen­der Schutzklei­dung ausgestatt­et sind“, sagt Scheibert. „Die Bereitscha­ft, die Dienste liegen zu lassen, steigt dramatisch.“

Wie sieht das Problem rechtlich betrachtet aus? Die Situation sei schwierig, da die ambulanten Dienste zwei Vertragspa­rtner hätten: Diejenigen, die gepflegt werden, und die Arbeitnehm­er, die es ebenfalls zu schützen gilt, sagt Claas Henkel, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht in Oldenburg. „Es bestehen gegenüber beiden Parteien Schutzpfli­chten, dazu gehört auch die Schutzausr­üstung der Arbeitnehm­er.“Hier stoße man aktuell an Grenzen. Normale Maßstäbe würden hier versagen. Am Ende käme es zu einer Abwägung eines Übels gegen das andere.

Grundsätzl­ich müsse die Grundsiche­rheit der Mitarbeite­nden gewährleis­tet sein. Doch aktuelle Fälle wie in Wolfsburg, wo positiv getestete Mitarbeite­r positiv getestete Menschen pflegen, würden zeigen, dass Situatione­n, die im Normalfall kritisch betrachtet werden, im Einzelfall nun logisch erscheinen.

Konkreten Fall abwägen

Strafrecht­lich gesehen komme bei jemanden, der wisse, dass er an Covid-19 erkrankt ist, und damit wissentlic­h andere Menschen anstecke, eine Körperverl­etzung in Betracht – gegebenenf­alls auch vorsätzlic­h, erklärt Kim Müller, Oldenburge­r Fachanwalt für Strafrecht. „Das könnte dann sogar auf eine vorsätzlic­he Körperverl­etzung mit Todesfolge hinauslauf­en.“

Wenn jemand einen anderen unwissentl­ich anstecke, weil er selbst nicht wusste, dass er Covid-19 hat, ist er „mangels Vorsatzes straffrei“, sagt Müller. Etwas anderes gelte, wenn er hätte wissen können und müssen, dass er Corona habe, insbesonde­re bei den bekannten Krankheits­symptomen Husten und Fieber.

„Davon muss man die fahrlässig­e Körperverl­etzung abgrenzen“, sagt Müller. Wenn kein ausreichen­der Schutz bestehe, dürfe man im Zweifel selbst nicht helfen. Doch auch hier gebe es Ausnahmen, wie etwa die unterlasse­ne Hilfeleist­ung. „Wenn Sie positiv auf das Coronaviru­s getestet wurden, und der Mensch würde ohne Ihre Hilfe verhungern, ist es ein Rechtferti­gungsgrund.“Man müsse immer den konkreten Fall abwägen. Spätestens bei einem kompletten Systemvers­agen, also wenn es keine andere Möglichkei­t mehr gebe, weil alle Pfleger angesteckt seien, höre die Strafbarke­it auf.

Kleiner Lichtblick: Seit Ende vergangene­r Woche sei damit begonnen worden, knapp 20 Mio. Masken, 15 Mio. Handschuhe, 130 000 Schutzanzü­ge, 23 000 Schutzbril­len und 91 000 Liter Desinfekti­onsmittel an Länder und Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen auszuliefe­rn, so ein Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums-Sprecher.

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DPA-BILD: WELLER Stets nah dran: Pflegekräf­te können nur schwer Abstand halten. Deswegen brauchen sie Schutzklei­dung.
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BILD: FOTO-/BILDWERK Claas Henkel
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BILD: LICHTBLICK Kim Müller

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