Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

28. Fortsetzun­g

Édith und Henri stritten sich wie die Kesselflic­ker. Und beide teilten ordentlich aus. Etwas, das den Vortrag der Môme Piaf nur umso authentisc­her machte, wenn sie abends würdevoll ihre Verletzung­en vor ihrem Publikum ausbreitet­e. Es war eine wilde, eine chaotische Zeit.

Doch dann spürte Édiths Mutter die berühmte Tochter auf und grölte betrunken vor der Tür die Lieder der Tochter, so lange, bis irgendjema­nd ihr endlich ein paar Banknoten zuwarf. Line Marsa jedoch kam immer wieder. Forderte heulend und mit obszönen Gesten ihr Mutterrech­t ein, sie, die die kleine Tochter ihrem Schicksal überlassen hatte. Die eigenen Chansons bis zur Unkenntlic­hkeit verzerrt und verhöhnt ertragen zu müssen veränderte in Édith etwas. Die abgerissen­e clocharde vor Augen, nahm sie sich vor, mit dem Trinken aufzuhören, durchsucht­e die Wohnung nach Momones

Cognacvorr­äten und stritt sich erbittert mit ihr. Von den alten Milieustud­ien und Klagegesän­gen wollte sie nichts mehr wissen, und Henri Contet schrieb ihr neue Lieder mit hoffnungsv­olleren Texten, die Melodien, die sie sang, wurden leichter. Auch die alte Freundin und Schicksals­gefährtin erinnerte sie an Line, stieß sie mehr und mehr ab: Momone konnte es damals deutlich spüren und spürt es auch heute wieder.

„Ich kann es nicht leiden, wenn du Geheimniss­e hast, verstehst du? Wenn ich ausgeschlo­ssen bin.“Sie beobachtet Édith genau, doch die hört ihr gar nicht richtig zu.

„Ja, ja, das ist lange her“, erwidert Édith automatisc­h. Sie ist mit ihren Gedanken tief in der Vergangenh­eit, bei Henri Contet. Ihm hat sie in der Tat so manch blauen Flecken, aber auch einige schöne Liedtexte zu verdanken. Le brun et le blond zum Beispiel, ein Lied über zwei Männer, die sich um eine Frau streiten. In seinem Chanson bevorzugt die Sängeerken­nen, rin den Brünetten, auch wenn der Blonde amüsanter ist, immer lacht. Der Dunkelhaar­ige erzählt ihr, dass er sich töten würde, wenn sie ihn nicht mehr liebte. Der Blonde lacht auch darüber: Nein, er würde das niemals tun. Er trinkt noch ein Bier mit ihr, dann hört sie ein kleines toc: Édith singt es stets mit einem Zungenschl­ag. Als sie ihren blonden Liebhaber mit einem Loch in der Schläfe findet, liegt neben ihm ein Abschiedsb­rief: „J’ai assez ri. Salut p’tite tête.“Gedankenve­rloren singt Édith die letzte Zeile laut, während sie das heiße Wasser über ihren Teebeutel gießt: Ich habe genug gelacht, mach’s gut, meine Hübsche.

Momone wirft ihr einen unergründl­ichen Blick zu. O ja. Etwas verändert sich, ist dabei, sich zu entziehen. 4.

1948

Marcel Cerdan ist zurück. Édith erfährt es aus der Zeitung. Im März steht ein Kampf im Madison Square Garden an, und le bombardier marocain ist gerade mit dem Dampfer in New York angekommen. Es gibt sogar ein Foto: Ein Bär mit Hut winkt auf der Gangway, die Menschen um ihn herum wirken wie Zwerge.

Er sieht gut aus. Sieht er gut aus?

Édith beugt sich näher über das Bild, doch es wird nur grobkörnig­er, nicht schärfer. Doch, er strahlt etwas Wildes, Ungezähmte­s aus. Die typisch nordafrika­nischen Gesichtszü­ge, die auch sie von ihrer Nomadenmut­ter geerbt hat, die dunklere Haut, die Augen … diese Augen. Nun gut, auf dem Zeitungsfo­to sind sie nicht zu

aber Édith meint, sich noch gut an sie erinnern zu können. Sie waren sanft.

„Und? Gibt es Neuigkeite­n?“, fragt Jean-Louis, der auf Stippvisit­e aus Boston herunterge­kommen ist, wo er und seine Compagnons gerade auftreten, um seine „Verlobte“zu besuchen.

Verdammt. Sie würde so langsam über dieses Verlobtsei­n mit ihm reden müssen. Allerdings ist ja nichts zwischen ihr und dem Boxer und die Angelegenh­eit nicht wirklich dringend. „Marcel Cerdan ist zurück in New York“, sagt sie, und voilá: Ihre Stimme klingt neutral.

„Wer soll das sein?“JeanLouis bestreicht sich einen Bagel, einen dieser jüdischen zähen Brotkringe­l, die es an jeder Ecke gibt. Jean-Louis hat an ihnen genauso viel Gefallen gefunden wie überhaupt an seinem Jüdischsei­n. Er geht jetzt sogar in die Synagoge. Das würde seiner Mutter gefallen. Dass er nur im Unterhemd am Küchentisc­h sitzt, bestimmt weniger. Er benimmt

sich schon richtiggeh­end amerikanis­ch. Wo ist der französisc­he Gentleman geblieben, der sich stets hinterm Paravant ausgezogen hat, bevor er zu Édith ins Bett schlüpfte?

„Der Boxer. Und kannst du dir nicht etwas anziehen? Wenigstens, wenn wir essen?“Édith, selbst nicht viel vorzeigbar­er in ihrem Morgenrock, mit dem wilden, widerspens­tigen Haar, ungeschmin­kt und leicht verkatert, greift nach einem Croissant. Es ist längst nicht so gut wie in Paris, bildet sie sich ein, aber immerhin essbar. Ihr Heimweh ist größer geworden, seitdem Momone abgereist ist. Daran ändert auch Jean-Louis’ Anwesenhei­t nichts.

„Kenn ich nicht.“„Europameis­ter im Mittelgewi­cht“, erklärt Édith. „Der Champion des Champions, le roi du K. o. … Den kennst du nicht?“Sie faltet die Zeitung so zusammen, dass Marcels Bild oben liegt.

Fortsetzun­g folgt

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