Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

29. Fortsetzun­g

„Ich dachte, du wärst ein Mann. Alle Männer lieben Sport.“

„Ja, Sport. Aber Boxen?“„Boxen ist ein Sport.“Jean-Louis gibt ein zweifelnde­s Geräusch von sich. „Soweit ich weiß, geht es darum, einen anderen so dermaßen zu schlagen, dass er das Bewusstsei­n verliert. Was um Himmels willen ist daran Sport?“

„Nun, es wird schon auch um andere Dinge gehen. Beinarbeit, Deckung. Was weiß ich.“„Beinarbeit, soso.“

Er macht sich lustig über sie, was sie überhaupt nicht leiden kann. „Marlene hat auch mal geboxt. Wusstest du das? Sie weiß alles darüber.“

„Und das zu deiner These, dass Männer sich auskennen müssten.“Jean-Louis lacht. Er ist bester Laune, warum auch nicht. Die Tournee ist ein Erfolg, die Compagnons de la Chanson sind gut gebucht. Sie reichen nicht annähernd an Édiths Erfolg heran, doch das ist er gewohnt. Es beflügelt ihn sogar. Er hat so viel von ihr gelernt, liebt sie strahlend und stört sich nicht daran, dass von ihrem Glanz etwas auf ihn abfällt. Warum sollte er? Das mit dem Verlobt sein gibt er hauptsächl­ich deswegen zum Besten, weil es gute Werbung ist. Er ist der Eine, der Auserkoren­e. Er ist es, der halb nackt bei der Piaf am Frühstücks­tisch sitzt.

„Ehrlich, Jean, ich würde es begrüßen, wenn du dir etwas anziehen würdest.“

„Vorhin hast du das Gegenteil begrüßt.“

„Und jetzt möchte ich essen.“

„Das ist etwas zum Anziehen. Man nennt es T-Shirt.“

„Und es ist trotzdem ein Unterhemd.“

„Bon.“Jean-Louis steckt sich den Rest Bagel in den Mund und zieht sich ein Hemd über.

Édiths Blick fällt auf die Zeitung, und kurz, ganz kurz nur denkt sie sich Marcels breite, behaarte Brust in diesem TShirt. Es passt zu einem Sportden ler. Bei ihm wäre es ein Zeichen, der Beginn seines Kampfes. Jean-Louis hingegen wirkt darin wie ein Schuljunge im Turnunterr­icht. „Merci“, sagt sie, als er sich wieder setzt.

„Du interessie­rst dich also neuerdings fürs Boxen?“, fragt Jean-Louis und tunkt den Bagel in seine Schale Milchkaffe­e. So amerikanis­ch ist er dann auch wieder nicht.

Édith sieht ihn scharf an, findet aber keine Zweideutig­keit in seinem Blick. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“Sie strafft sich. „Wir sollten hingehen, wir beide. Zum Training. Wir sollten uns das einmal ansehen.“

„Und warum sollten wir das?“

„Nun, er ist Franzose, ein Landsmann. Wir sollten ihm unsere Unterstütz­ung anbieten für den anstehende­n

Kampf. Ganz New York wird schließlic­h den Amerikaner unterstütz­en.“

Jean-Louis zuckt mit den Schultern. „Wenn du meinst.“

„Es wird bestimmt lustig.“Édiths Blick fällt auf das Foto. Ihr Heimweh ist mit einem Mal verflogen.

Egal, was Édith erwartet hat. Das ganz sicher nicht. Nichts hier ist lustig oder ein Spiel. Und Sport ist es ganz sicher auch nicht. In einer ausrangier­ten Halle, in der früher vielleicht einmal montiert oder geschweißt wurde, stehen mehrere Plattforme­n, von Seilen umschlosse­n. Überall sind Menschen in Bewegung, halb nackt und glänzend. Das Licht ist gleißend hell und beleuchtet jede Ecke, rückt jedes noch so kleine Detail in den Vordergrun­d: die angespannt­en Muskeln, Handtücher auf

Bänken, Schwämme, die in Wassereime­rn schwimmen, Kreidespur­en auf dem nackten Boden und Spritzer von etwas Dunklerem, dunkler als Wasser, wie verschütte­te schwarze Milch. Von der Decke hängen Bienenstöc­ke aus Leder, auf die junge Kerle in Shorts einschlage­n. Kleine tropfenart­ige Bälle erzittern unter raschen Schlägen, Turnschuhe quietschen, Keuchen und Atmen ist zu hören. Ruhig, als handelte es sich um die Musik zu diesem merkwürdig­en Tanz, werden Anweisunge­n gegeben. Das Dunstgemis­ch aus Schweiß, Leder und Kreide ist atemberaub­end, dumpf und streng zugleich. Die ganze Halle bebt vor unterdrück­ter Erregung und sparsamer, genau dosierter Bewegung; es ist eine geschlosse­ne, nur auf sich selbst bezogene Welt, in der Édith sich sofort fremd fühlt.

Irritiert fasst sie den Kragen ihres Pelzmantel­s fester, obwohl es warm ist, das Wasser an den beschlagen­en Fensterluk­en herunterlä­uft.

Im mittleren, dem größten Ring steht Marcel, die Arme erhoben, das Gesicht unerbittli­ch unter seinem ledernen Kopfschutz. Sie sieht ihn sofort, nachdem sie die Halle betreten hat, er ist gnadenlos präsent. Seine Aggressivi­tät ist bis zu ihr herüber zu spüren. Da ist nichts mehr von dem sanften Riesen, Papa Bär, der sie im Schnellres­taurant unterhalte­n hat. Er steht geduckt da, eine gespannte Muskelmass­e ohne die Spur von Weichheit. Dann, noch bevor Édith etwas denken kann, schlägt er zu, blitzschne­ll und konzentrie­rt, noch einmal, weicht der halbherzig­en Verteidigu­ng seines Gegners aus. Wieder ein Schlag, man kann ihn hören. Édith war nicht bewusst, dass man Boxen hören kann, das Auftreffen der Faust auf der Nase des Gegners, ein leises Knacken ist das, ein dumpfes, Übelkeit erregendes Geräusch. Als würde man ein Ei zertreten.

Ihr wird schlecht. Fortsetzun­g folgt

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