MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
„Sie sind Édith Piaf, nicht wahr?“, fragt der Manager, ein Kerl mit runder Hornbrille und zurückgegelten Haaren, der sie zunächst gar nicht hereinlassen wollte. Es ist nicht der, der sie damals im Cinq an den Tisch gebeten hat und der Jo hieß. Dieser hier stellt sich als Lucien vor, Lucien Roupp. Sein kleiner Mund wirkt herablassend, selbst wenn er seinen eigenen Namen ausspricht. Augenscheinlich hält er nicht viel von landsmännischer Unterstützung.
Édith nickt, die Augen fest auf die Szene vor sich gerichtet.
„Und Sie …?“Der Mann wendet sich an Jean-Louis. „Ihr Verlobter.“
Nur halb Ohr, nimmt sich Édith wieder einmal vor, unbedingt mit Jean-Louis über diese Verlobungssache zu reden. Sie zuckt zusammen, als Marcel einen nächsten Schlag landet. So kann man die Dinge natürlich auch regeln.
„Marcel muss trainieren, Sie sehen es ja. Er wird gegen
Lavern Roach boxen.“Jean-Louis nickt wissend. Édith ist sich sicher, dass er den Namen zum ersten Mal hört. Wieder ein Schlag von Marcel, der andere Boxer wankt. „Lieber Himmel“, sagt sie, „der ist ja nur halb so groß“, ergreift sie instinktiv Partei.
„Wer? Carl?“Der Manager folgt ihrem Blick. „Im Gegenteil: Er ist sogar etwas schwerer. Sieht nur nicht so aus, nicht wahr?“Genugtuung liegt in seiner Stimme.
Ein Schlag noch, und Carl taumelt nach hinten, fängt sich jedoch wieder.
„Und Carl ist auch einer seiner Gegner?“Édith verspürt den Wunsch, sich bis zur Nase in ihrem Pelzmantel zu vergraben, gibt ihm aber nicht nach. Der Schweiß prickelt ihr im Nacken und macht sie nervös.
„Carl? Nein. Der ist sein Sparringspartner.“
„Sein Partner, ah.“Édith zwinkert, als Marcel mehrere wohldosierte Schläge auf seinen Partner niedergehen lässt. Juste Dieu!
„Sehen Sie den Kopfschutz, die gepolsterten Handschuhe? Kann gar nichts passieren.“Nach dem nächsten Schlag macht der Kopf des armen Carl eine so rasante Drehung, als ob er nachsehen wollte, ob hinter ihm etwas auf dem Boden liegt. Marcel tänzelt, lässt die Arme hängen, als wollte er sich lockern. Er wechselt ein paar Worte mit seinem Sparringspartner, der nickt. Sein Genick scheint nicht gebrochen, doch seine Augen sind so geschwollen, dass sie kaum mehr zu sehen sind. Die beiden klatschen sich mit den Handschuhen ab. Das Training ist anscheinend vorbei.
„Marcel? He, Marcel!“Der Manager pfeift, und Marcel Cerdan dreht sich um.
Und sieht Édith. Und lächelt, was mit dem Kinnriemen der Lederkappe und dem
Mundschutz allerdings nicht übermäßig verführerisch aussieht. Geübt dreht er sich unter den Seilen durch, springt das Podest herunter und spuckt den Mundschutz in einen der Eimer. Dann kommt er zu ihnen herüber, in voller Montur und voller Energie.
Édith hat das Gefühl, eine Dampflok würde auf sie zurauschen, und strafft sich. Es fehlt nicht viel, und sie hätte ihre Fäuste erhoben. Wenn er sie jetzt umarmt, sie an sich drückt, wird sie zerquetscht werden wie eine Fliege, so viel ist klar.
Doch der Boxer tut nichts dergleichen. Er hält nur seinem Manager die Hände hin, der routiniert anfängt, ihm die Handschuhe aufzuschnüren. „Édith“, sagt Marcel, immer noch breit lächelnd, auf sie herunter, und seine Augen strahlen, „es ist so eine Freude, dich zu sehen.“
Auf einmal wirkt er freundlich, fast sanft. Ganz so, wie Édith ihn kennengelernt hat, und sie begreift, dass seine Aggressivität sich wundersamerweise nur auf den Ring beschränkt, auf ein kleines, viereckiges und abgetrenntes Gebiet. Nichts davon ist jetzt noch zu spüren. Sie entspannt sich und lächelt zurück.
Die Handschuhe sind ab, und Marcel benutzt die bandagierten
Hände, um sich die Kappe abzusetzen, fährt sich, sicherlich nicht unabsichtlich, durchs dicke, schwarzlockige Haar. Verschwitzt, wie er ist, einen grüngelben Fleck auf dem Kinn, beugt er sich über Édiths Hand und küsst sie. Dreht sie dann um und küsst auch ihre Handfläche, was Jean-Louis dazu veranlasst, sich vernehmbar zu räuspern.
Marcel tritt einen Schritt zurück, grinst sie an.
Édith kann nicht anders, als zurückzulachen. Sie genießt seinen schweren, moschusartigen Geruch, inhaliert ihn geradezu.
„Das ist übrigens Mademoiselles Verlobter“, sagt der Manager, die Boxhandschuhe an sich gepresst.
„Jean-Louis Jaubert“, stellt sich Jean-Louis vor und streckt die Hand aus.
Marcel muss Édith loslassen, um sie zu drücken. Dem kurzen Keuchen nach zu urteilen, bereut Jean-Louis seine höfliche Geste unmittelbar.
„Die zauberhafte Édith Piaf und ihr Verlobter“, sagt Marcel unbeeindruckt. „Ich habe Wunderdinge über dich gehört. Welch ein Triumph!“
„Ich habe auch Wunderdinge über dich gehört“, erwidert Édith. Die amerikanischen Zeitungen sind zwar zurückhaltend, was die Berichterstattung über Cerdan betrifft, aber schließlich hat sie Schilderungen aus erster Hand. „Josephine Baker hat mir alles über dich erzählt. Frankreich liegt dir zu Füßen.“
Fortsetzung folgt