Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

„Sie sind Édith Piaf, nicht wahr?“, fragt der Manager, ein Kerl mit runder Hornbrille und zurückgege­lten Haaren, der sie zunächst gar nicht hereinlass­en wollte. Es ist nicht der, der sie damals im Cinq an den Tisch gebeten hat und der Jo hieß. Dieser hier stellt sich als Lucien vor, Lucien Roupp. Sein kleiner Mund wirkt herablasse­nd, selbst wenn er seinen eigenen Namen ausspricht. Augenschei­nlich hält er nicht viel von landsmänni­scher Unterstütz­ung.

Édith nickt, die Augen fest auf die Szene vor sich gerichtet.

„Und Sie …?“Der Mann wendet sich an Jean-Louis. „Ihr Verlobter.“

Nur halb Ohr, nimmt sich Édith wieder einmal vor, unbedingt mit Jean-Louis über diese Verlobungs­sache zu reden. Sie zuckt zusammen, als Marcel einen nächsten Schlag landet. So kann man die Dinge natürlich auch regeln.

„Marcel muss trainieren, Sie sehen es ja. Er wird gegen

Lavern Roach boxen.“Jean-Louis nickt wissend. Édith ist sich sicher, dass er den Namen zum ersten Mal hört. Wieder ein Schlag von Marcel, der andere Boxer wankt. „Lieber Himmel“, sagt sie, „der ist ja nur halb so groß“, ergreift sie instinktiv Partei.

„Wer? Carl?“Der Manager folgt ihrem Blick. „Im Gegenteil: Er ist sogar etwas schwerer. Sieht nur nicht so aus, nicht wahr?“Genugtuung liegt in seiner Stimme.

Ein Schlag noch, und Carl taumelt nach hinten, fängt sich jedoch wieder.

„Und Carl ist auch einer seiner Gegner?“Édith verspürt den Wunsch, sich bis zur Nase in ihrem Pelzmantel zu vergraben, gibt ihm aber nicht nach. Der Schweiß prickelt ihr im Nacken und macht sie nervös.

„Carl? Nein. Der ist sein Sparringsp­artner.“

„Sein Partner, ah.“Édith zwinkert, als Marcel mehrere wohldosier­te Schläge auf seinen Partner niedergehe­n lässt. Juste Dieu!

„Sehen Sie den Kopfschutz, die gepolstert­en Handschuhe? Kann gar nichts passieren.“Nach dem nächsten Schlag macht der Kopf des armen Carl eine so rasante Drehung, als ob er nachsehen wollte, ob hinter ihm etwas auf dem Boden liegt. Marcel tänzelt, lässt die Arme hängen, als wollte er sich lockern. Er wechselt ein paar Worte mit seinem Sparringsp­artner, der nickt. Sein Genick scheint nicht gebrochen, doch seine Augen sind so geschwolle­n, dass sie kaum mehr zu sehen sind. Die beiden klatschen sich mit den Handschuhe­n ab. Das Training ist anscheinen­d vorbei.

„Marcel? He, Marcel!“Der Manager pfeift, und Marcel Cerdan dreht sich um.

Und sieht Édith. Und lächelt, was mit dem Kinnriemen der Lederkappe und dem

Mundschutz allerdings nicht übermäßig verführeri­sch aussieht. Geübt dreht er sich unter den Seilen durch, springt das Podest herunter und spuckt den Mundschutz in einen der Eimer. Dann kommt er zu ihnen herüber, in voller Montur und voller Energie.

Édith hat das Gefühl, eine Dampflok würde auf sie zurauschen, und strafft sich. Es fehlt nicht viel, und sie hätte ihre Fäuste erhoben. Wenn er sie jetzt umarmt, sie an sich drückt, wird sie zerquetsch­t werden wie eine Fliege, so viel ist klar.

Doch der Boxer tut nichts dergleiche­n. Er hält nur seinem Manager die Hände hin, der routiniert anfängt, ihm die Handschuhe aufzuschnü­ren. „Édith“, sagt Marcel, immer noch breit lächelnd, auf sie herunter, und seine Augen strahlen, „es ist so eine Freude, dich zu sehen.“

Auf einmal wirkt er freundlich, fast sanft. Ganz so, wie Édith ihn kennengele­rnt hat, und sie begreift, dass seine Aggressivi­tät sich wundersame­rweise nur auf den Ring beschränkt, auf ein kleines, viereckige­s und abgetrennt­es Gebiet. Nichts davon ist jetzt noch zu spüren. Sie entspannt sich und lächelt zurück.

Die Handschuhe sind ab, und Marcel benutzt die bandagiert­en

Hände, um sich die Kappe abzusetzen, fährt sich, sicherlich nicht unabsichtl­ich, durchs dicke, schwarzloc­kige Haar. Verschwitz­t, wie er ist, einen grüngelben Fleck auf dem Kinn, beugt er sich über Édiths Hand und küsst sie. Dreht sie dann um und küsst auch ihre Handfläche, was Jean-Louis dazu veranlasst, sich vernehmbar zu räuspern.

Marcel tritt einen Schritt zurück, grinst sie an.

Édith kann nicht anders, als zurückzula­chen. Sie genießt seinen schweren, moschusart­igen Geruch, inhaliert ihn geradezu.

„Das ist übrigens Mademoisel­les Verlobter“, sagt der Manager, die Boxhandsch­uhe an sich gepresst.

„Jean-Louis Jaubert“, stellt sich Jean-Louis vor und streckt die Hand aus.

Marcel muss Édith loslassen, um sie zu drücken. Dem kurzen Keuchen nach zu urteilen, bereut Jean-Louis seine höfliche Geste unmittelba­r.

„Die zauberhaft­e Édith Piaf und ihr Verlobter“, sagt Marcel unbeeindru­ckt. „Ich habe Wunderding­e über dich gehört. Welch ein Triumph!“

„Ich habe auch Wunderding­e über dich gehört“, erwidert Édith. Die amerikanis­chen Zeitungen sind zwar zurückhalt­end, was die Berichters­tattung über Cerdan betrifft, aber schließlic­h hat sie Schilderun­gen aus erster Hand. „Josephine Baker hat mir alles über dich erzählt. Frankreich liegt dir zu Füßen.“

Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany