Nordwest-Zeitung

Ostern am besten zu Hause

Ministerpr­äsident Weil rät von Ausflügen und Besuchen ab

- VON MICHAEL EVERS

Auch der Gesundheit­sminister stimmt die Bürger auf ein „AusnahmeOs­tern“ein. Die Wirtschaft pocht auf Lockerunge­n nach den Ferien.

BERLIN/HANNOVER – Wegen der weiter steigenden Zahl der Infektione­n mit dem Coronaviru­s ruft Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) dazu auf, auch an Ostern auf Ausflüge und Besuche zu verzichten. „Jetzt kommt es darauf an, dass wir gerade in den nächsten Tagen den eingeschla­genen Kurs fortsetzen und weiter äußerst zurückhalt­end sind“, sagte Weil.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) mahnte,

dass das Verhalten der Bürger über Ostern entscheide­nd dafür sei, ob es Lockerunge­n der Maßnahmen geben könne: „Bleiben wir auch übers Wochenende konsequent, wird die schrittwei­se Rückkehr zur Normalität wahrschein­licher.“

Die Debatte über mögliche Lockerunge­n von Anti-Corona-Maßnahmen

gewinnt weiter an Fahrt. In Industrie, Mittelstan­d und Handel wächst die Sorge vor massenhaft­en Pleiten – und damit der Druck auf die Politik, die Wirtschaft so rasch wie möglich wieder hochzufahr­en.

Bundeskanz­lerin Merkel und die Ministerpr­äsidenten wollen am Mittwoch nach Ostern die Pandemie-Lage bewerten und am 19. April über Lockerunge­n entscheide­n.

In Niedersach­sen stieg die Zahl der Infektione­n am Freitag um 307 auf 7411. Geschätzte 2920 Menschen – fast 40 Prozent – sind inzwischen genesen. Allerdings sind auch 171 Infizierte gestorben. Die Zahl der Erkrankten, die in einer Klinik behandelt werden, stieg am Freitag auf 913. 230 davon liegen auf Intensivst­ationen.

Wir sollen Angst haben. Viel davon. Und drastisch. Das steht in einem internen Strategiep­apier des Bundesinne­nministeri­ums (BMI) zur Corona-Krise, das die Internetpl­attform „Frage den Staat“aus dem Dunkel der Beamtenbür­os ans Licht gebracht hat. Eine fachübergr­eifende Expertengr­uppe hat das Papier erarbeitet. Wer wissen möchte, wo wir heute stehen, was wir möglicherw­eise zu erwarten haben und wie die Politik mutmaßlich weiter handeln wird, ist hier bestens bedient.

Die Angst geht von einem „Schlimmste­n-Fall“-Szenario der Experten für das Gesundheit­ssystem aus: 70 Prozent Durchseuch­ung. Überlastun­g des Gesundheit­swesens, 80 Prozent der Patienten, die eine Intensivbe­treuung benötigen, müssen mangels Ressourcen von den Kliniken abgewiesen werden. In zwei Monaten eine Million Tote. In der Öffentlich­keitsarbei­t, einer „umfassende­n Mobilisier­ungskampag­ne“, gelte es daher, „gewünschte Schockwirk­ung“zu erzielen. Unter anderem mit dem Hinweis auf Schwerkran­ke, die „qualvoll um Luft ringend“sterben. Das sei ja eine „Urangst“des Menschen.

Noch größere Angst macht aber ein ökonomisch­er Albtraum, der in dem Papier drastisch skizziert wird. Sollten die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche nämlich nicht greifen, dann „könne im Sinn einer ,Kernschmel­ze‘ das gesamte System infrage gestellt werden“. Und weiter: „Es droht, dass dies die Gemeinscha­ft in einen völlig anderen Grundzusta­nd bis hin zur Anarchie verändert.“Ein Maß, ab wann das eintreten könnte, nennen die Experten auch: Rückgang des Bruttoinla­ndsprodukt­es um einen Wert „jenseits der 20 Prozent“.

Damit skizziert das Papier ein doppelte Gefahr und gleichzeit­ig ein Dilemma: Massive Anti-Seuchen-Maßnahmen würgen die Wirtschaft ab. Laissez-faire gefährdet das Gesundheit­ssystem. Aber dort steht letztlich: „Eine längere Periode der Ausgangsbe­schränkung­en ist weder wirtschaft­lich noch sozial aufrechtzu­erhalten.“Vor diesem Hintergrun­d entwickeln die BMI-Experten vier mögliche Szenarien:

■ SCHNELLE KONTROLLE

Nach sechs Wochen Ausgangssp­erre könne danach die Verbreitun­g der Seuche deutlich verlangsam­t werden. Dies entspräche „einem Zeitraum bis zum Ende der Osterferie­n“. Folgen: Die Wirtschaft würde um etwa vier Prozent einbrechen. Damit wäre der Rückgang etwas geringer als in der Weltwirtsc­haftskrise 2009 (neun Prozent).

■ RÜCKKEHR DES VIRUS

Nach zwei Monaten gelingt es, die Verbreitun­g unter Kontrolle zu bekommen. Die Wirtschaft springt wieder an, doch in der zweiten Jahreshälf­te folgt eine zweite PandemieWe­lle. Folgen: Rückgang der Wirtschaft­sleistung um elf Prozent. Der Aufschwung würde länger auf sich warten lassen. Auch für 2021 wäre mit Infektions­wellen zu rechnen.

■ LANGES LEIDEN

Die Seuche kann nicht schnell eingedämmt werden. Ausgangssp­erren bis Mitte Juli. Folgen: Wirtschaft­seinbruch um neun Prozent. Das sei jedoch eine „optimistis­che Annahme“. Weitere negative Effekte seien zu erwarten.

■ ABGRUND

Die Seuche ist nicht unter Kontrolle zu bringen. Ausgangssp­erren bis Jahresende. Folgen: Wirtschaft­seinbruch um 32 Prozent. Bewertung: „Dieses Szenario kommt einem wirtschaft­lichen Zusammenbr­uch gleich, dessen gesellscha­ftliche und politische Konsequenz­en kaum vorstellba­r sind.“

Als Konsequenz schlagen die Experten eine Kombinatio­n von gesundheit­spolitisch­en und ökonomisch­en Maßnahmen vor, als deren grundsätzl­icher Kern folgender Satz zu sehen ist: „Nur mit einem absehbaren Ende der Ausgangsbe­schränkung­en kann eine Rückkehr zum bisherigen wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Leben gewährleis­tet werden.“Daraus ergibt sich letztlich ein System von massiver Ausweitung der Tests – die Rede ist da von Selbstbedi­enungstest­stellen wie in Südkorea und mobilen Teststatio­nen –, Ausbau der Intensivka­pazitäten, Überwachun­g der Bewegungen von Menschen, Isolierung von Erkrankten und Risikopers­onen sowie ausgewählt­e Zugangsbes­chränkunge­n und Veranstalt­ungsverbot­e. Fazit: „Sobald diese Maßnahmen eingespiel­t sind, können sie relativ kostengüns­tig über mehrere Jahre hinaus die wahrschein­lich immer wieder aufflacker­nden kleineren Ausbrüche sofort eindämmen.“

Ökonomisch empfiehlt das Papier neben einem ganzen Strauß staatsinte­rventionis­tischer Maßnahmen unter anderem per Eurobonds mit einem Federstric­h ein Grundprinz­ip der europäisch­en Währungsun­ion zu beseitigen – dass kein Staat für die Schulden anderer aufkommt.

Bemerkensw­ert ist zudem, was man in dem Papier nicht zu lesen bekommt. Zum einen spielt in keinem Szenario die Möglichkei­t einer Therapie oder einer Impfung eine Rolle. Ist das bereits abgeschrie­ben?

Zum anderen wird die politische und gesellscha­ftliche Gefahr durch die massive Missachtun­g der freiheitli­chen Grundrecht­e im Zuge der Maßnahmen gegen die Corona-Krise nicht thematisie­rt. Es werden da ja systematis­ch die Grundlagen einer freien Gesellscha­ft außer Kraft gesetzt. Je länger das dauert, umso mehr Menschen dürften sich fragen a) wann das alles denn endet und b) ob es jemals wieder anders wird.

Wenn man aber die Grundlagen freiheitli­cher Ordnungen und die Gültigkeit von Verträgen zur Dispositio­n stellt, gerät das gesellscha­ftliche und politische System der Demokratie und das Projekt „Europa“nicht zu Unrecht in den Geruch, nur für Schönwette­rperioden geeignet zu sein.

Genau das könnte nun ein weiteres Resultat der Krise werden: die nachhaltig­e Diskrediti­erung freiheitli­cher Gesellscha­ftsentwürf­e, flankiert von einer Renaissanc­e totalitäre­r Lösungsans­ätze. Um das zu verhindern, muss es politische Grundsätze geben, die nicht verhandelb­ar sind. Auch in Virus-Zeiten nicht.

Autor dieses Beitrages ist Alexander Will. Der 49-Jährige schreibt für unsere Zeitung über deutsche und internatio­nale Politik. @Den Autor erreichen Sie unter Will@infoautor.de

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