„Deutschland hat sehr viel schneller reagiert“
Ärztekammer-Präsident Reinhardt über niedrige Todeszahlen und viele Intensivbetten
Die EU-Kommission will in Kürze Vorschläge präsentieren, damit die Mitgliedstaaten koordiniert aus dem Stillstand herausgeführt werden. Brauchen wir dazu einen europäisch abgestimmten Weg? Reinhardt: Da gibt es nationale und übrigens auch regionale Besonderheiten, die man berücksichtigen sollte. Dennoch brauchen wir so etwas wie eine gemeinsame Tendenz, gerade auch für die grenznahen Bereiche. Es macht ja wenig Sinn, wenn die Menschen endlich wieder über die Grenzen fahren dürfen, dort aber andere Verhältnisse herrschen.
Die Abstimmung hat am Anfang nicht geklappt. Es gab ja einen regelrechten Wettbewerb um Schutzkleidung und medizinische Geräte. Welche Lehren müssen jetzt gezogen werden?
Reinhardt: Es hat keinen Sinn, in guten Zeiten Pandemie-Pläne auszuarbeiten, die dann aber in einem Aktenordner verschwinden. Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, sowohl Vorräte für den Notfall anzulegen als auch Produktionskapazitäten für Schutzausrüstung und Arzneimittel in Deutschland und Europa zu schaffen. Da sehe ich die EU gefordert, um hier zu einer Aufgabenteilung zu kommen, die im akuten Fall allen hilft.
Wie weit sollte das gehen? Brauchen wir so etwas wie einen EU-weiten Bedarfsplan für Intensivbetten und Kapazitäten in den Kliniken? Reinhardt: Das ist ein sehr hoch gestecktes Ziel. Selbst innerhalb Deutschlands ist die Krankenhaus-Bedarfsplanung nicht zentral organisiert, sondern Sache der Bundesländer.
Trotzdem ist hier ein Neuansatz nötig. Es kommt darauf an, dass bei der Planung künftig stärker auch Krisenszenarien berücksichtigt werden. Nur wenige Wochen vor der Pandemie gab es eine viel beachtete Studie in Deutschland, die zu dem Fazit kam, es gebe rund 400 Krankenhäuser zu viel. Wenn wir dieser Empfehlung gefolgt wären, hätten wir unter Umständen bei uns ebenfalls Verhältnisse wie in Spanien, Italien oder Frankreich. Man wird im Nachgang zu dieser Krise sicherlich darüber reden müssen, welchem Sachverstand wir künftig in Deutschland und der EU folgen sollten und welchem auch nicht.
Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der Infektionen und vor allem der Todesfälle in Deutschland so viel niedriger als in anderen Ländern ist? Reinhardt: Es gibt viele Gründe. Ganz wichtig war, dass Deutschland von Anfang an sehr viel getestet und dadurch mehr Infizierte nachgewiesen hat, die wir dann sofort isoliert haben. Es gab Hinweise von Medizinern in Norditalien, dass bereits im Januar und Februar dieses Jahres relativ viele atypische Lungenentzündungen registriert wurden. Da war von Corona noch nicht die Rede. Heute müssen wir annehmen, dass das Virus da schon grassierte und die offizielle Zahl der Infizierten viel zu klein ist. Da hat Deutschland sehr viel schneller und zielgerichteter reagiert.
Hat das auch mit einem effizienteren Gesundheitssystem zu tun?
Reinhardt: Ganz sicher hat es mit einem sehr guten Hausarzt-Netz zu tun. Sechs von sieben Infizierten werden ambulant behandelt. Der Hausarzt, der seinen Patienten aufmerksam verfolgt, weiß genau, wann er ihn rechtzeitig in die Klinik einweist. Das hat erheblich dazu beigetragen, dass unsere Klinikkapazitäten bisher nicht durch nicht notwendigerweise klinikpflichtige Patienten ausgeschöpft, die Menschen aber trotzdem gut behandelt wurden.
Sind die offiziellen Daten also nicht verlässlich? Reinhardt: Nimmt man die offiziellen Angaben, sterben in Deutschland zwei Prozent der Infizierten. In Italien, Spanien oder Frankreich sind es fünf Mal mehr. Aber die Zahlen bleiben nicht aussagekräftig, weil es zahlreiche Menschen gibt, die sich nie haben testen lassen, obwohl sie möglicherweise infiziert waren, die Symptome aber eher gering ausfielen. Ich spreche hier nicht von Einzelfällen. Wie viele das sind, weiß niemand. Statt uns Horrorszenarien auszumalen, sollten wir uns deshalb auf klare Analysen konzentrieren. Und diese Klarheit können repräsentative Bevölkerungstests schaffen, wie beispielsweise mit den aktuellen Studien in Heinsberg und München.