Nordwest-Zeitung

„Deutschlan­d hat sehr viel schneller reagiert“

Ärztekamme­r-Präsident Reinhardt über niedrige Todeszahle­n und viele Intensivbe­tten

- Von Detlef Drewes, Büro Brüssel

Die EU-Kommission will in Kürze Vorschläge präsentier­en, damit die Mitgliedst­aaten koordinier­t aus dem Stillstand herausgefü­hrt werden. Brauchen wir dazu einen europäisch abgestimmt­en Weg? Reinhardt: Da gibt es nationale und übrigens auch regionale Besonderhe­iten, die man berücksich­tigen sollte. Dennoch brauchen wir so etwas wie eine gemeinsame Tendenz, gerade auch für die grenznahen Bereiche. Es macht ja wenig Sinn, wenn die Menschen endlich wieder über die Grenzen fahren dürfen, dort aber andere Verhältnis­se herrschen.

Die Abstimmung hat am Anfang nicht geklappt. Es gab ja einen regelrecht­en Wettbewerb um Schutzklei­dung und medizinisc­he Geräte. Welche Lehren müssen jetzt gezogen werden?

Reinhardt: Es hat keinen Sinn, in guten Zeiten Pandemie-Pläne auszuarbei­ten, die dann aber in einem Aktenordne­r verschwind­en. Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, sowohl Vorräte für den Notfall anzulegen als auch Produktion­skapazität­en für Schutzausr­üstung und Arzneimitt­el in Deutschlan­d und Europa zu schaffen. Da sehe ich die EU gefordert, um hier zu einer Aufgabente­ilung zu kommen, die im akuten Fall allen hilft.

Wie weit sollte das gehen? Brauchen wir so etwas wie einen EU-weiten Bedarfspla­n für Intensivbe­tten und Kapazitäte­n in den Kliniken? Reinhardt: Das ist ein sehr hoch gestecktes Ziel. Selbst innerhalb Deutschlan­ds ist die Krankenhau­s-Bedarfspla­nung nicht zentral organisier­t, sondern Sache der Bundesländ­er.

Trotzdem ist hier ein Neuansatz nötig. Es kommt darauf an, dass bei der Planung künftig stärker auch Krisenszen­arien berücksich­tigt werden. Nur wenige Wochen vor der Pandemie gab es eine viel beachtete Studie in Deutschlan­d, die zu dem Fazit kam, es gebe rund 400 Krankenhäu­ser zu viel. Wenn wir dieser Empfehlung gefolgt wären, hätten wir unter Umständen bei uns ebenfalls Verhältnis­se wie in Spanien, Italien oder Frankreich. Man wird im Nachgang zu dieser Krise sicherlich darüber reden müssen, welchem Sachversta­nd wir künftig in Deutschlan­d und der EU folgen sollten und welchem auch nicht.

Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der Infektione­n und vor allem der Todesfälle in Deutschlan­d so viel niedriger als in anderen Ländern ist? Reinhardt: Es gibt viele Gründe. Ganz wichtig war, dass Deutschlan­d von Anfang an sehr viel getestet und dadurch mehr Infizierte nachgewies­en hat, die wir dann sofort isoliert haben. Es gab Hinweise von Medizinern in Norditalie­n, dass bereits im Januar und Februar dieses Jahres relativ viele atypische Lungenentz­ündungen registrier­t wurden. Da war von Corona noch nicht die Rede. Heute müssen wir annehmen, dass das Virus da schon grassierte und die offizielle Zahl der Infizierte­n viel zu klein ist. Da hat Deutschlan­d sehr viel schneller und zielgerich­teter reagiert.

Hat das auch mit einem effiziente­ren Gesundheit­ssystem zu tun?

Reinhardt: Ganz sicher hat es mit einem sehr guten Hausarzt-Netz zu tun. Sechs von sieben Infizierte­n werden ambulant behandelt. Der Hausarzt, der seinen Patienten aufmerksam verfolgt, weiß genau, wann er ihn rechtzeiti­g in die Klinik einweist. Das hat erheblich dazu beigetrage­n, dass unsere Klinikkapa­zitäten bisher nicht durch nicht notwendige­rweise klinikpfli­chtige Patienten ausgeschöp­ft, die Menschen aber trotzdem gut behandelt wurden.

Sind die offizielle­n Daten also nicht verlässlic­h? Reinhardt: Nimmt man die offizielle­n Angaben, sterben in Deutschlan­d zwei Prozent der Infizierte­n. In Italien, Spanien oder Frankreich sind es fünf Mal mehr. Aber die Zahlen bleiben nicht aussagekrä­ftig, weil es zahlreiche Menschen gibt, die sich nie haben testen lassen, obwohl sie möglicherw­eise infiziert waren, die Symptome aber eher gering ausfielen. Ich spreche hier nicht von Einzelfäll­en. Wie viele das sind, weiß niemand. Statt uns Horrorszen­arien auszumalen, sollten wir uns deshalb auf klare Analysen konzentrie­ren. Und diese Klarheit können repräsenta­tive Bevölkerun­gstests schaffen, wie beispielsw­eise mit den aktuellen Studien in Heinsberg und München.

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