Menschen nehmen Umgebung neu wahr
In der Corona-Krise erhalten Spaziergänge höhere Bedeutung – Studienfach in Kassel
Goethe thematisierte im „Faust“den Osterspaziergang. Professor Schmitz forscht sogar zur Promenadologie
Kassel – Neben Joggen und Rad fahren gehört das Spazierengehen zu den wenigen Dingen, die derzeit in der Öffentlichkeit noch erlaubt sind – wenn auch mit strikten Beschränkungen und Distanzregeln. Dem Spaziergang komme ein neuer Stellenwert zu, beobachtet Martin Schmitz. Er ist Professor an der Kunsthochschule Kassel und beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Spazierengehen. „Einige Menschen erkunden jetzt zum ersten Mal ihre nähere Umgebung, da ihr Mobilitätsradius eingeschränkt ist oder sie zu Hause arbeiten. Bislang wussten sie wahrscheinlich besser, wie es auf Mallorca oder in ihrem italienischen Urlaubsort aussieht als direkt vor ihrer Haustür“, sagt er.
Dabei könnten Spaziergänger wichtige Entdeckungen machen: „Da Stadtplanung in den letzten Jahren im wesentlichen Verkehrsplanung war, werden dem eingefleischten Autofahrer nun die Probleme der Fußgänger vielleicht bewusster“, hofft Schmitz. Er hat die „Lucius und Annemarie Burckhardt Professur“inne, benannt nach dem Schweizer Gelehrten Lucius Burckhardt (1925-2003), der die sogenannte Spaziergangswissenschaft (siehe Kasten) begründet hat.
Bisher habe der Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder anderen Zielen immer von A nach B geführt, sagt Schmitz. Zum Wandern sei man gezielt
aus der Tiefgarage in idyllische Landschaften gefahren. Nun aber gehe es oft nur darum, mal frische Luft zu schnappen. „Das absichtslose Umherstreifen in der unmittelbaren Umgebung eröffnet neue Perspektiven“, erklärt Schmitz. Dies könne zur größeren Bereitschaft führen, sich um deren Gestaltung zu kümmern.
Bewegen und Gestalten
Die junge Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie genannt, spielt vor allem für Designer, Städtebauer und Architekten eine Rolle. In ihr
wird der Zusammenhang zwischen Bewegung, Wahrnehmung und Gestaltung erforscht. Es gehe darum, sich den eigenen Stadtraum oder die umgebende Landschaft zu erschließen.
Spazierengehen als Methode gibt es auch in der Philosophie: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken“, schrieb einst der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Und Johann Wolfgang von Goethe ließ im „Faust“die Menschen im „Osterspaziergang“jubeln: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s
sein“. Ausgedehnte Osterspaziergänge in großen Gruppen wie bei Goethe, wo alle der Enge ihrer Zimmer und Häuser entfliehen, sind in diesem Jahr aber nicht möglich.
Zusammenhalt fördern
Dafür wird der Spaziergang zurzeit – mangels Alternativen – öfter auch mit der Familie unternommen. Ob die familiären Spaziergänge auch zum Zusammenhalt derselben einen Beitrag leisten können? „Hoffentlich“, sagt Schmitz.
Mehr über Martin Schmitz unter @ http://u.epd.de/1hgt