Nordwest-Zeitung

Menschen nehmen Umgebung neu wahr

In der Corona-Krise erhalten Spaziergän­ge höhere Bedeutung – Studienfac­h in Kassel

- Von Christian Prüfer

Goethe thematisie­rte im „Faust“den Osterspazi­ergang. Professor Schmitz forscht sogar zur Promenadol­ogie

Kassel – Neben Joggen und Rad fahren gehört das Spaziereng­ehen zu den wenigen Dingen, die derzeit in der Öffentlich­keit noch erlaubt sind – wenn auch mit strikten Beschränku­ngen und Distanzreg­eln. Dem Spaziergan­g komme ein neuer Stellenwer­t zu, beobachtet Martin Schmitz. Er ist Professor an der Kunsthochs­chule Kassel und beschäftig­t sich wissenscha­ftlich mit dem Spaziereng­ehen. „Einige Menschen erkunden jetzt zum ersten Mal ihre nähere Umgebung, da ihr Mobilitäts­radius eingeschrä­nkt ist oder sie zu Hause arbeiten. Bislang wussten sie wahrschein­lich besser, wie es auf Mallorca oder in ihrem italienisc­hen Urlaubsort aussieht als direkt vor ihrer Haustür“, sagt er.

Dabei könnten Spaziergän­ger wichtige Entdeckung­en machen: „Da Stadtplanu­ng in den letzten Jahren im wesentlich­en Verkehrspl­anung war, werden dem eingefleis­chten Autofahrer nun die Probleme der Fußgänger vielleicht bewusster“, hofft Schmitz. Er hat die „Lucius und Annemarie Burckhardt Professur“inne, benannt nach dem Schweizer Gelehrten Lucius Burckhardt (1925-2003), der die sogenannte Spaziergan­gswissensc­haft (siehe Kasten) begründet hat.

Bisher habe der Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder anderen Zielen immer von A nach B geführt, sagt Schmitz. Zum Wandern sei man gezielt

aus der Tiefgarage in idyllische Landschaft­en gefahren. Nun aber gehe es oft nur darum, mal frische Luft zu schnappen. „Das absichtslo­se Umherstrei­fen in der unmittelba­ren Umgebung eröffnet neue Perspektiv­en“, erklärt Schmitz. Dies könne zur größeren Bereitscha­ft führen, sich um deren Gestaltung zu kümmern.

Bewegen und Gestalten

Die junge Spaziergan­gswissensc­haft, auch Promenadol­ogie genannt, spielt vor allem für Designer, Städtebaue­r und Architekte­n eine Rolle. In ihr

wird der Zusammenha­ng zwischen Bewegung, Wahrnehmun­g und Gestaltung erforscht. Es gehe darum, sich den eigenen Stadtraum oder die umgebende Landschaft zu erschließe­n.

Spaziereng­ehen als Methode gibt es auch in der Philosophi­e: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken“, schrieb einst der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Und Johann Wolfgang von Goethe ließ im „Faust“die Menschen im „Osterspazi­ergang“jubeln: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s

sein“. Ausgedehnt­e Osterspazi­ergänge in großen Gruppen wie bei Goethe, wo alle der Enge ihrer Zimmer und Häuser entfliehen, sind in diesem Jahr aber nicht möglich.

Zusammenha­lt fördern

Dafür wird der Spaziergan­g zurzeit – mangels Alternativ­en – öfter auch mit der Familie unternomme­n. Ob die familiären Spaziergän­ge auch zum Zusammenha­lt derselben einen Beitrag leisten können? „Hoffentlic­h“, sagt Schmitz.

Mehr über Martin Schmitz unter @ http://u.epd.de/1hgt

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Dpa-BILD: Kasper Vom Eise befreit: Zaghaft zeigen sich Blüten im Weimarer Park an der Ilm, im Hintergrun­d Goethes Gartenhaus. Von 1776 bis 1782 war es Hauptwohns­itz des Dichters.

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