MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
„Ende des Jahres? Nächstes Jahr? Du bestimmst, Édith, so wie immer.“Arnold greift sich den vorwitzigen Farnzweig, der ihm vor dem Gesicht hängt, mit beiden Händen und reißt ihn kurzerhand ab. Suchend sieht er sich um.
„Ich muss das natürlich mit Loulou besprechen. Und in meinen Terminkalender sehen. Da sind noch Schallplattenaufnahmen, Konzerte in Frankreich, irgendein Film ist auch geplant …“
„Ich weiß, darling, ich weiß.“Arnold schwingt ungeduldig den Farnwedel. „Du bist ein vielbeschäftigtes Wesen. Die Welt liegt dir zu Füßen. Aber dies ist das Versailles, deine künstlerische Heimat. Dies ist New York.“Er wirft den Farn einem sich hinter ihm vorbeischlängelnden Kellner kurzerhand aufs Tablett und wischt sich die Hände ab. „Also?“
New York: Das ist Marcel für sie. Hier können sie unerkannt herumbummeln, in eines der vielen kleinen Restaurants
essen gehen, zusammen sein. Ihr Heimweh nach Frankreich ist verflogen, ihre Sehnsucht nach Croissants, Pariser Luft und einem Picknick an ihrer geliebten Seine. New York bedeutet Freiheit. Die Freiheit, Marcel lieben zu dürfen. Sie denkt an ihre Spaziergänge durch den Central Park, die leidenschaftlichen Nächte im Hotel.
„Natürlich, Arnold.“Édith lächelt ihm im Spiegel huldvoll zu. – „Du kannst auf jeden Fall auf mich zählen.“
Freiheit ist eine amerikanische Erfindung, die sich hauptsächlich auf Desinteresse gründet. So viel hat Édith in der Zwischenzeit gelernt. Die amerikanische Presse stürzt sich vor dem anstehenden Kampf hauptsächlich auf Marcels Gegner, den jungen Texas boy, und bis auf ein paar wenige Ausnahmen in Intellektuellenblättern haben sich die Artikel über sie, the french singer, auch in Grenzen gehalten. Die Franzosen jedoch, die sich die Freiheit neben Gleichheit und Brüderlichkeit auf die
Fahne geschrieben haben, verfolgen jeden von Édiths und Marcels Schritten.
Hinter dem Theater warten abends ihre Fans, denen sie hastig Autogramme schreibt, während sie darauf brennt, zu Marcel zu kommen. Journalisten sind jetzt, zum Ende der Spielzeit, kaum mehr darunter. Dafür sind ein Haufen Sportreporter aus Frankreich angereist, die Marcel belagern. Und selbst die sind harmlos im Vergleich zu seiner eigenen Entourage, vom Manager über den Koch bin hin zum Masseur, die Marcel genauestens im Auge behalten.
Das also hat er damit gemeint, als er gefragt hat, ob sie gut schleichen könne.
Aber es braucht schon mehr als ein paar Franzosen, um Édith von dem Mann fernzuhalten, den sie liebt.
Natürlich hat die Sängerin als Erstes ein Zimmer in dem Hotel genommen, in dem Marcel und seine Begleiter untergekommen sind, doch das haben die französischen Reporter auch. Ungesehen durch die Lobby zu kommen erweist sich beinah als unmöglich, also muss Édith einen Hilfskoch bestechen, der abends die Hintertür einen Spaltbreit offen lässt. In der Tür klemmt ein Schuh, den Édith wie besprochen hinter eine Mülltonne schubst. In der Küche ist trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit noch reger Betrieb, es dampft und zischt, Befehle werden gebrüllt, hektisch wischen in Weiß gekleidete Gestalten durch die engen Gänge. Niemand nimmt groß Notiz von der kleinen Gestalt im Pelzmantel, und Édith ist so schnell wieder heraus, wie sie hereingekommen ist. Den Gang entlang zur Treppe begegnet ihr niemand und im Treppenhaus nur ein Zimmermädchen, das sich unter einem riesigen Berg Wäsche begraben an den Abstieg macht. Endlich, fünf Stockwerke höher, erreicht sie ihr Zimmer, kramt den Schlüssel aus der Handtasche und lässt sich schwer atmend aufs Bett fallen. Jetzt heißt es warten, denn Marcel kann sich nicht so einfach aus seinem Zimmer schleichen: Sein Manager wohnt direkt nebenan.
Die Zeit verstreicht, Édith langweilt sich. Sie ist nicht müde, im Gegenteil, noch aufgekratzt von ihrer Vorstellung, und kann kaum stillhalten. Sie streicht durch das noble Hotelzimmer wie ein Tiger im Käfig, durchsucht Schrank und Kommoden nach Überbleibseln vergangener Hotelgäste und findet keine, guckt sogar unters Bett. Himmel, ist das ein anständiges Etablissement! Es gibt nicht mal eine Minibar, doch sie hat sowieso schon im Klub ein Glas an der Bar getrunken, und Marcel mag es nicht, wenn sie „angeheitert“ist. Zumindest nicht, solange er nicht mittrinken kann, und das ist ausgeschlossen, schließlich ist er im Training. In Marcels Suite gibt es einen Fernsehempfänger, doch so nobel ausgestattet ist ihr Zimmer nicht. Sie hat immerhin ein Badezimmer und überlegt, ein Bad zu nehmen, ist dafür allerdings zu unruhig. Wo Marcel nur bleibt?
Zum Zeitvertreib räumt sie ihre Handtasche auf dem Bett aus. Und wieder ein. Hört dem Gejaule der Sirenen vor dem Fenster zu. Macht ein paar Artikulationsübungen, indem sie auf die Spitze ihres Zeigefingers beißt und Texte aufsagt. Ein Korken wäre besser, aber sie hat keinen.
Korken, Wein. Schon gleich hätte sie Lust auf ein Glas und ist schon kurz davor, den Zimmerservice anzurufen, doch nein: Training. Keinen Alkohol, zumindest nicht so viel.