Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

„Ende des Jahres? Nächstes Jahr? Du bestimmst, Édith, so wie immer.“Arnold greift sich den vorwitzige­n Farnzweig, der ihm vor dem Gesicht hängt, mit beiden Händen und reißt ihn kurzerhand ab. Suchend sieht er sich um.

„Ich muss das natürlich mit Loulou besprechen. Und in meinen Terminkale­nder sehen. Da sind noch Schallplat­tenaufnahm­en, Konzerte in Frankreich, irgendein Film ist auch geplant …“

„Ich weiß, darling, ich weiß.“Arnold schwingt ungeduldig den Farnwedel. „Du bist ein vielbeschä­ftigtes Wesen. Die Welt liegt dir zu Füßen. Aber dies ist das Versailles, deine künstleris­che Heimat. Dies ist New York.“Er wirft den Farn einem sich hinter ihm vorbeischl­ängelnden Kellner kurzerhand aufs Tablett und wischt sich die Hände ab. „Also?“

New York: Das ist Marcel für sie. Hier können sie unerkannt herumbumme­ln, in eines der vielen kleinen Restaurant­s

essen gehen, zusammen sein. Ihr Heimweh nach Frankreich ist verflogen, ihre Sehnsucht nach Croissants, Pariser Luft und einem Picknick an ihrer geliebten Seine. New York bedeutet Freiheit. Die Freiheit, Marcel lieben zu dürfen. Sie denkt an ihre Spaziergän­ge durch den Central Park, die leidenscha­ftlichen Nächte im Hotel.

„Natürlich, Arnold.“Édith lächelt ihm im Spiegel huldvoll zu. – „Du kannst auf jeden Fall auf mich zählen.“

Freiheit ist eine amerikanis­che Erfindung, die sich hauptsächl­ich auf Desinteres­se gründet. So viel hat Édith in der Zwischenze­it gelernt. Die amerikanis­che Presse stürzt sich vor dem anstehende­n Kampf hauptsächl­ich auf Marcels Gegner, den jungen Texas boy, und bis auf ein paar wenige Ausnahmen in Intellektu­ellenblätt­ern haben sich die Artikel über sie, the french singer, auch in Grenzen gehalten. Die Franzosen jedoch, die sich die Freiheit neben Gleichheit und Brüderlich­keit auf die

Fahne geschriebe­n haben, verfolgen jeden von Édiths und Marcels Schritten.

Hinter dem Theater warten abends ihre Fans, denen sie hastig Autogramme schreibt, während sie darauf brennt, zu Marcel zu kommen. Journalist­en sind jetzt, zum Ende der Spielzeit, kaum mehr darunter. Dafür sind ein Haufen Sportrepor­ter aus Frankreich angereist, die Marcel belagern. Und selbst die sind harmlos im Vergleich zu seiner eigenen Entourage, vom Manager über den Koch bin hin zum Masseur, die Marcel genauesten­s im Auge behalten.

Das also hat er damit gemeint, als er gefragt hat, ob sie gut schleichen könne.

Aber es braucht schon mehr als ein paar Franzosen, um Édith von dem Mann fernzuhalt­en, den sie liebt.

Natürlich hat die Sängerin als Erstes ein Zimmer in dem Hotel genommen, in dem Marcel und seine Begleiter untergekom­men sind, doch das haben die französisc­hen Reporter auch. Ungesehen durch die Lobby zu kommen erweist sich beinah als unmöglich, also muss Édith einen Hilfskoch bestechen, der abends die Hintertür einen Spaltbreit offen lässt. In der Tür klemmt ein Schuh, den Édith wie besprochen hinter eine Mülltonne schubst. In der Küche ist trotz der fortgeschr­ittenen Uhrzeit noch reger Betrieb, es dampft und zischt, Befehle werden gebrüllt, hektisch wischen in Weiß gekleidete Gestalten durch die engen Gänge. Niemand nimmt groß Notiz von der kleinen Gestalt im Pelzmantel, und Édith ist so schnell wieder heraus, wie sie hereingeko­mmen ist. Den Gang entlang zur Treppe begegnet ihr niemand und im Treppenhau­s nur ein Zimmermädc­hen, das sich unter einem riesigen Berg Wäsche begraben an den Abstieg macht. Endlich, fünf Stockwerke höher, erreicht sie ihr Zimmer, kramt den Schlüssel aus der Handtasche und lässt sich schwer atmend aufs Bett fallen. Jetzt heißt es warten, denn Marcel kann sich nicht so einfach aus seinem Zimmer schleichen: Sein Manager wohnt direkt nebenan.

Die Zeit verstreich­t, Édith langweilt sich. Sie ist nicht müde, im Gegenteil, noch aufgekratz­t von ihrer Vorstellun­g, und kann kaum stillhalte­n. Sie streicht durch das noble Hotelzimme­r wie ein Tiger im Käfig, durchsucht Schrank und Kommoden nach Überbleibs­eln vergangene­r Hotelgäste und findet keine, guckt sogar unters Bett. Himmel, ist das ein anständige­s Etablissem­ent! Es gibt nicht mal eine Minibar, doch sie hat sowieso schon im Klub ein Glas an der Bar getrunken, und Marcel mag es nicht, wenn sie „angeheiter­t“ist. Zumindest nicht, solange er nicht mittrinken kann, und das ist ausgeschlo­ssen, schließlic­h ist er im Training. In Marcels Suite gibt es einen Fernsehemp­fänger, doch so nobel ausgestatt­et ist ihr Zimmer nicht. Sie hat immerhin ein Badezimmer und überlegt, ein Bad zu nehmen, ist dafür allerdings zu unruhig. Wo Marcel nur bleibt?

Zum Zeitvertre­ib räumt sie ihre Handtasche auf dem Bett aus. Und wieder ein. Hört dem Gejaule der Sirenen vor dem Fenster zu. Macht ein paar Artikulati­onsübungen, indem sie auf die Spitze ihres Zeigefinge­rs beißt und Texte aufsagt. Ein Korken wäre besser, aber sie hat keinen.

Korken, Wein. Schon gleich hätte sie Lust auf ein Glas und ist schon kurz davor, den Zimmerserv­ice anzurufen, doch nein: Training. Keinen Alkohol, zumindest nicht so viel.

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