Nordwest-Zeitung

Durch Kreyenbrüc­k im Linienbus

Wie der Nordwesten Schriftste­ller inspiriert – Region und Küstenraum in zahlreiche­n Werken Das Reisen ist im Moment erschwert. Gelegenhei­t, sich dem Nordwesten literarisc­h zu nähern und zu erfahren, wo Schriftste­ller ihn beschriebe­n haben.

- VON HANS BEGEROW

OLDENBURG/IM NORDWESTEN – Was haben die Post in Wiefelsted­e, die Untersuchu­ngshaftans­talt in der Gerichtsst­raße in Oldenburg, die FrieslandK­aserne in Varel, das Kinocenter in Wilhelmsha­ven, ein Hof in Dötlingen, ein Ausflugsca­fé in Vechta, eine Buslinie in Oldenburg, der Braker Hafen und die Schleusent­ore in Varel gemeinsam? Es sind konkrete Orte, die Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller in ihren Werken erwähnen.

Und je länger man in Büchern heimischer Autoren liest: Der Nordwesten ist gar nicht so unbeschrie­ben in der Literaturl­andkarte, wie man vielleicht denken könnte. Was bedeutet der konkrete Ort in Werken der Autoren? Der in Oldenburg lebende Schriftste­ller Jochen Schimmang sieht konkrete Orte in der Literatur als von herausrage­nder Bedeutung an, sie deuteten auf „die wirkliche Welt“hin, sagt der Schriftste­ller, der selbst mit seinem Debütroman „Der schöne Vogel Phönix“

dem Norden seine Sympathie erklärt. Eine literarisc­he Suche nach der wirklichen Welt in Romanen und Erzählunge­n.

■ KLAUS MODICK

„Weg war weg“(Roman, Rowohlt 1988): Klaus Modick hat zahlreiche Romane mit Oldenburge­r („Der Flügel“etwa) oder Ammerlände­r Bezügen („Moos“) geschriebe­n. „Weg war weg“ist wegen der selbstiron­ischen Erzählweis­e und Leichtigke­it mein stiller Favorit: Weg ist in dem Buch des Oldenburge­r Schriftste­llers ein Romanmanus­kript, dem Erzähler durch Diebstahl des Kleinwagen­s beim Windelkauf in einem Einkaufsze­ntrum in Oldenburg genommen.

Je länger man die komische Verfolgung­sfahrt durch das Oldenburge­r Land liest, desto mehr setzt sich die Ahnung fest, dass es vielleicht gar nicht so schlecht ist, dass „Nachtexpre­ss nach Babylon“, so der Titel, gestohlen wurde. Es findet sich immerhin ein Teil des gesuchten Manuskript­s wieder, über Wapeldorf führt die Spur zu einem Ofensetzer, der in einem Haus an der Peripherie Varels einen Kachelofen aufbaut. Modick beschreibt es mit einem Zitat Oswald Spenglers: „Mitten im Lande liegen Gehäuse einer erloschene­n Seele, in die geschichts­lose Gesellscha­ft sich einnistet.“Großartig.

■ HELGA BÜRSTER

„Luzies Erbe“(Insel Verlag 2019): Eine traurige Geschichte, die Liebe zwischen Luzie und dem Zwangsarbe­iter Jurek ist Thema des wunderbare­n Romans, der unverkennb­ar in Helga Bürsters Heimat und Wohnort Dötlingen spielt. Der Tod der Matriarchi­n Luzie im hohen Alter, so die Romanhandl­ung, ermöglicht eine Rückschau auf die Familienge­schichte. Der Großvater war in deutsche Kriegsgefa­ngenschaft geraten und nach einer Zeit in einem der Emsland-Lager auf einen Hof bei Dötlingen gekommen, wo Helga Bürsters Großmutter ihn kennenlern­te. Zwei Töchter wurden geboren, doch durch ein Wunder hatte es für beide keine Konsequenz­en. Der Schrecken der Nazi-Zeit vor dem Hintergrun­d des „Gaumusterd­orfs“Dötlingen.

■ JOCHEN SCHIMMANG

„Der schöne Vogel Phönix“

(Suhrkamp 1979, aktuell bei Edition Nautilus erhältlich): In einer Garnisonss­tadt am Jadebusen beginnt der Debütroman Schimmangs, freilich wird der Ortsname Varel nie erwähnt, obwohl Schimmang (im Roman Murnau) in Varel seinen Grundwehrd­ienst 1967/1968 ableistete (und nicht in Wilhelmsha­ven, wie verschiede­ntlich kolportier­t wird. In Wilhelmsha­ven besuchen Murnau und zwei Freunde

eine Kinovorfüh­rung von Arthur Penns „Bonnie und Clyde“.) Wohl aber wird Rostrup erwähnt, wo Murnau/ Schimmang sich im Bundeswehr­krankenhau­s einer schmerzrei­chen und verpfuscht­en Mandeloper­ation unterziehe­n muss. Nach dem Genesungsu­rlaub tritt der Erzähler wieder seinen Dienst in der Schreibstu­be an.

An einem Abend im September versackt er im Oldenburge­r Stautorcaf­é, verpasst den Zug zurück nach Varel und wird mit einer Ausgangssp­erre belegt. Die „Erinnerung­en eines Dreißigjäh­rigen“, so der Untertitel, schildern die Befindlich­keit der Aufbegehre­nden der 68er Jahre und die Zeit nach RAF-Hysterie und linken K-Gruppen.

■ ACHIM ENGSTLER

„Was geht da vor, Sophie?“

(Isensee Verlag 2018): Der Vareler Schriftste­ller hat in einem Briefroman das Leben des (real existieren­den) Grafen Anton II. von Aldenburg skizziert, Herr eines armen Zwergstaat­s, das außer dem Amt Varel die Herrlichke­it Kniphausen (heute ein Teil von Wilhelmsha­ven) umfasste. In Briefen blickt der Graf auf sein Leben zurück und sorgt sich um seine Tochter Charlotte Sophie (spätere Gräfin Bentinck, eine Intellektu­elle, der die Historiker Verschwend­ungssucht nachsagen). Eingewoben

hat Engstler, übrigens mit dem Oldenburge­r Autorenkol­legen Schimmang befreundet, das Thema Hexenverfo­lgung.

■ ANNIKA BLANKE

„Wenn ich morgens Bus fahre“(unveröffen­tlichtes Manuskript): Die Slammerin und Autorin hat Oldenburg in einer Alltagsbeg­egnung ein kleines literarisc­hes Denkmal gesetzt: „Im Bus dann müde Stille. Wenns geht ganz hinten rechts sitzen wie Eminem in 8 Mile, bei uns gibts immerhin Kreyenbroo­klyn, ich weiß, hier ist nicht New York und erst recht nicht Detroit, aber wenn wir ehrlich sind, dann ist das hier eben auch manchmal Pauldingbu­rg.“(Erhältlich von Annika Blanke: „Neulich war gestern noch heute“, Lektora Verlag 2017). Annika Blanke stammt wie ihr Kollege Schimmang aus Leer.

■ STADTBLOGG­ER

Einen ganz anderen Ansatz, wie die Region Autoren inspiriert, kann man im „BLogbuch“verfolgen. Das Literaturh­aus Oldenburg hat 2011 ein „BLogbuch“entwickelt, Schriftste­ller werden Stadtschre­iber (freilich ohne Residenzpf­licht). Unter ihnen waren Gregor Sander, Katharina Hartwell, Finn-Ole Heinrich, Sabrina Janesch und Tilmann Rammstedt.

@ www.blogbuch-oldenburg.de

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BILD: CHRISTIAN J. AHLERS Annika Blanke
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BILD: TORSTEN VON REEKEN Klaus Modick
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BILD: TORSTEN VON REEKEN Jochen Schimmang
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BILD: HANS BEGEROW Helga Bürster
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BILD: MELANIE JEPSEN Achim Engstler

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