Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD FORTSETZUN­G FOLGT

40. FORTSETZUN­G

„Na ja, manchmal schon.“„Aber sicher nicht so. Und Édith: Das Kostüm sieht lächerlich aus. Als würden wir ein Stück im Boulevardt­heater aufführen.“

„Ich weiß.“Édith ruckelt am Mieder der Uniform, das sie beileibe nicht ausfüllen kann. „Ist ein bisschen deprimiere­nd. Aber der Plan hat geklappt. Ich bin bei dir, und Lucien hat nichts gemerkt. Niemand hat mich gesehen. Du kannst ganz beruhigt sein.“

„Beruhigt sein.“Marcel schüttelt den Kopf. „Ich soll beruhigt sein, wenn ich mit jemandem wie dir zusammen bin? Du bringst mich noch in ein frühes Grab.“

„Aber nein.“Édith kommt zu ihm herüber, steigt auf die Handtücher am Boden, was sie gleich ein Stückchen größer macht, und schmiegt sich an ihn. Auch sie beherrscht diesen unwiderste­hlich französisc­hen Schmollmun­d. „Im Gegenteil: Ich will dich zum Leben erwecken“, sagt sie und lässt ihre Hand an seinem Körper heruntergl­eiten, um klarzumach­en, was sie mit „erwecken“meint.

„Édith“, stöhnt Marcel, immer noch gegen die Tür gelehnt, „tu mir nur einen einzigen Gefallen.“

„Und der wäre?“Sie schaut mit riesigen Augen zu ihm auf.

„Falls du jemals ein Buch über dein Leben schreibst, dann kommt das hier nicht darin vor. Versprichs­t du es?“

Édith nickt unschuldig. „Gestrichen.“Ihre Hand findet das, was sie gesucht hat. „Das würde mir sowieso niemand glauben.“

„Das hast du nicht getan!“Marlene ist sprachlos.

„Hab ich wohl.“Édith kichert. „Es war unglaublic­h. Der beste … Na, du weißt schon. Es war auf jeden Fall die Mühe wert.“Sie beißt in ihren Toast.

Die beiden Freundinne­n haben sich wieder im Waldorf Astoria getroffen, dieses Mal im Frühstücks­raum. Es ist belebter als nachmittag­s beim Tee, die Menschen munter und neugierig auf den Tag, der vor ihnen liegt. Broschüren werden gewälzt, Pläne geschmiede­t. Der Saal summt förmlich vor guter Laune und Unternehmu­ngslust. Es gibt keines dieser neumodisch­en Buffets, die ein paar Hotels eingeführt haben und an denen sich die Menschen anstellen müssen wie an einer Kassenschl­ange. Hier wird noch alles bestellt und mit Servierwag­en an den Tisch gebracht. Vor Marlene und Édith türmt sich eine Etagere mit den typisch amerikanis­chen Süßigkeite­n wie Waffeln mit Ahornsirup und Blaubeermu­ffins, dazu gibt es jedoch auch alles, was Amerikaner als „europäisch“bezeichnen: Käse, Schinken, sogar eine Art Leberwurst mit Trüffeln. Zu bestellen sind sämtliche Arten von Eiern, Frühstücks­speck, Pilze, Bohnen, Omelettes und

Würstchen.

„Wer isst morgens eigentlich Würstchen?“, fragt Édith und sieht schaudernd zum Nachbartis­ch. „Sind das Deutsche?“

Marlene hört ein wenig zu, schüttelt dann den Kopf. „Schweizer. Ich verstehe kein Wort. Aber das ist jetzt auch egal. Ich kann immer noch nicht fassen, was du getan hast. Dich als Zimmermädc­hen zu verkleiden! Stell dir mal vor, die Journalist­en hätten dich erwischt!“

Édith zuckt mit den Schultern und tunkt ihren Toast in den Milchkaffe­e. „Ich hätte immer noch alles abstreiten können. Außer sie hätten einen Fotografen dabeigehab­t.“

„So etwas könnte dich ruinieren, chérie.“Wenn Marlene das sagt mit ihrer rauchigen, tiefen Stimme, klingt es in der

Tat ernst, doch Édith winkt ab.

„Ach was. Aber Marcel hat sich auch furchtbar aufgeregt. Hinterher.“Sie beißt erneut in ihren Toast, bevor er sich auflöst.

„Wir haben früher dauernd solche Sachen gemacht, Momone und ich.“

Marlene runzelt die Stirn. „Da wart ihr wie alt? Sechzehn? Siebzehn?“

„Oh, auch später. Ich erinnere mich, als Asso einmal überrasche­nd auf Fronturlau­b kam und wir Paul verstecken mussten …“Sie bricht ab, kaut langsam, mit einem Mal nachdenkli­ch geworden. „Asso?“, fragt Marlene nach. „Der Mann hat mich gerettet. Mich aufgebaut, als ich am Boden war, gleich nach Papa Leplées Tod. Und nicht nur in künstleris­cher Hinsicht: Er hat mir alles beigebrach­t. Ordnung, Sauberkeit. Tischmanie­ren. Wie ich mich zu kleiden habe und wie nicht. Er hat Momone rausgeworf­en und mir ein neues Repertoire verschafft, ein neues Image. Doch, Raymond Asso hat mir beigebrach­t, ein menschlich­es

Wesen zu werden. Und wie habe ich es ihm gedankt?“

Jetzt gibt Édith sich zerknirsch­t, ist ganz voller Selbstzwei­fel. Marlene kennt die Stimmungss­chwankunge­n ihrer Freundin schon und übt sich in Geduld. Insgeheim beneidet sie sie sogar um diese Fähigkeit, Kummer und Reue zu empfinden und sie auch zu zeigen. Das ist schließlic­h das Leben. Im Gespräch mit ihren amerikanis­chen Freunden geht es meist um Erfolg und das gute Aussehen und wer irgendetwa­s mit wem hat. Von ihnen würde sich niemand so plötzlich fallen lassen, doch Édith hat immer zwei Gesichter. Oder besser gesagt: zwei Melodien in sich. Eine in Dur, die andere in Moll.

„Ich habe Asso mit Paul betrogen, Paul Meurisse. Und er, als er es gemerkt hat, ist er zu Paul in die Garderobe gegangen, um klarzustel­len, dass er keine Ansprüche stellt. Meinem Glück nicht im Weg steht. Kannst du dir das vorstellen?“

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