MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
40. FORTSETZUNG
„Na ja, manchmal schon.“„Aber sicher nicht so. Und Édith: Das Kostüm sieht lächerlich aus. Als würden wir ein Stück im Boulevardtheater aufführen.“
„Ich weiß.“Édith ruckelt am Mieder der Uniform, das sie beileibe nicht ausfüllen kann. „Ist ein bisschen deprimierend. Aber der Plan hat geklappt. Ich bin bei dir, und Lucien hat nichts gemerkt. Niemand hat mich gesehen. Du kannst ganz beruhigt sein.“
„Beruhigt sein.“Marcel schüttelt den Kopf. „Ich soll beruhigt sein, wenn ich mit jemandem wie dir zusammen bin? Du bringst mich noch in ein frühes Grab.“
„Aber nein.“Édith kommt zu ihm herüber, steigt auf die Handtücher am Boden, was sie gleich ein Stückchen größer macht, und schmiegt sich an ihn. Auch sie beherrscht diesen unwiderstehlich französischen Schmollmund. „Im Gegenteil: Ich will dich zum Leben erwecken“, sagt sie und lässt ihre Hand an seinem Körper heruntergleiten, um klarzumachen, was sie mit „erwecken“meint.
„Édith“, stöhnt Marcel, immer noch gegen die Tür gelehnt, „tu mir nur einen einzigen Gefallen.“
„Und der wäre?“Sie schaut mit riesigen Augen zu ihm auf.
„Falls du jemals ein Buch über dein Leben schreibst, dann kommt das hier nicht darin vor. Versprichst du es?“
Édith nickt unschuldig. „Gestrichen.“Ihre Hand findet das, was sie gesucht hat. „Das würde mir sowieso niemand glauben.“
„Das hast du nicht getan!“Marlene ist sprachlos.
„Hab ich wohl.“Édith kichert. „Es war unglaublich. Der beste … Na, du weißt schon. Es war auf jeden Fall die Mühe wert.“Sie beißt in ihren Toast.
Die beiden Freundinnen haben sich wieder im Waldorf Astoria getroffen, dieses Mal im Frühstücksraum. Es ist belebter als nachmittags beim Tee, die Menschen munter und neugierig auf den Tag, der vor ihnen liegt. Broschüren werden gewälzt, Pläne geschmiedet. Der Saal summt förmlich vor guter Laune und Unternehmungslust. Es gibt keines dieser neumodischen Buffets, die ein paar Hotels eingeführt haben und an denen sich die Menschen anstellen müssen wie an einer Kassenschlange. Hier wird noch alles bestellt und mit Servierwagen an den Tisch gebracht. Vor Marlene und Édith türmt sich eine Etagere mit den typisch amerikanischen Süßigkeiten wie Waffeln mit Ahornsirup und Blaubeermuffins, dazu gibt es jedoch auch alles, was Amerikaner als „europäisch“bezeichnen: Käse, Schinken, sogar eine Art Leberwurst mit Trüffeln. Zu bestellen sind sämtliche Arten von Eiern, Frühstücksspeck, Pilze, Bohnen, Omelettes und
Würstchen.
„Wer isst morgens eigentlich Würstchen?“, fragt Édith und sieht schaudernd zum Nachbartisch. „Sind das Deutsche?“
Marlene hört ein wenig zu, schüttelt dann den Kopf. „Schweizer. Ich verstehe kein Wort. Aber das ist jetzt auch egal. Ich kann immer noch nicht fassen, was du getan hast. Dich als Zimmermädchen zu verkleiden! Stell dir mal vor, die Journalisten hätten dich erwischt!“
Édith zuckt mit den Schultern und tunkt ihren Toast in den Milchkaffee. „Ich hätte immer noch alles abstreiten können. Außer sie hätten einen Fotografen dabeigehabt.“
„So etwas könnte dich ruinieren, chérie.“Wenn Marlene das sagt mit ihrer rauchigen, tiefen Stimme, klingt es in der
Tat ernst, doch Édith winkt ab.
„Ach was. Aber Marcel hat sich auch furchtbar aufgeregt. Hinterher.“Sie beißt erneut in ihren Toast, bevor er sich auflöst.
„Wir haben früher dauernd solche Sachen gemacht, Momone und ich.“
Marlene runzelt die Stirn. „Da wart ihr wie alt? Sechzehn? Siebzehn?“
„Oh, auch später. Ich erinnere mich, als Asso einmal überraschend auf Fronturlaub kam und wir Paul verstecken mussten …“Sie bricht ab, kaut langsam, mit einem Mal nachdenklich geworden. „Asso?“, fragt Marlene nach. „Der Mann hat mich gerettet. Mich aufgebaut, als ich am Boden war, gleich nach Papa Leplées Tod. Und nicht nur in künstlerischer Hinsicht: Er hat mir alles beigebracht. Ordnung, Sauberkeit. Tischmanieren. Wie ich mich zu kleiden habe und wie nicht. Er hat Momone rausgeworfen und mir ein neues Repertoire verschafft, ein neues Image. Doch, Raymond Asso hat mir beigebracht, ein menschliches
Wesen zu werden. Und wie habe ich es ihm gedankt?“
Jetzt gibt Édith sich zerknirscht, ist ganz voller Selbstzweifel. Marlene kennt die Stimmungsschwankungen ihrer Freundin schon und übt sich in Geduld. Insgeheim beneidet sie sie sogar um diese Fähigkeit, Kummer und Reue zu empfinden und sie auch zu zeigen. Das ist schließlich das Leben. Im Gespräch mit ihren amerikanischen Freunden geht es meist um Erfolg und das gute Aussehen und wer irgendetwas mit wem hat. Von ihnen würde sich niemand so plötzlich fallen lassen, doch Édith hat immer zwei Gesichter. Oder besser gesagt: zwei Melodien in sich. Eine in Dur, die andere in Moll.
„Ich habe Asso mit Paul betrogen, Paul Meurisse. Und er, als er es gemerkt hat, ist er zu Paul in die Garderobe gegangen, um klarzustellen, dass er keine Ansprüche stellt. Meinem Glück nicht im Weg steht. Kannst du dir das vorstellen?“