Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

Ja, jetzt will er auch sehen, was passiert. Ja, er will sehen, wie Roach zu Brei geschlagen wird. Um sich entsetzt abwenden zu können. Um ein für alle Mal festzustel­len, dass Boxen kein Sport, sondern schlichtwe­g barbarisch ist.

Doch da irrt er sich, denn bislang war das Ganze noch ein Sport, die Zuschauer zwar erregt und laut, aber eben Zuschauer.

Dann beginnt einer der Boxer, es ist Cerdan, aus einer Stirnwunde zu bluten, und das Geschehen kippt sofort. „First blood“, schreit jemand, und die Menge gerät in Ekstase. Aus dem Boxen wird ein Kampf und unvorherge­sehen, ohne dass Jean-Louis es will, packt ihn ein Schwindel, ein Brechreiz – und gleichzeit­ig eine atemlose Wut, die er kaum zügeln kann. Jetzt würde er am liebsten selbst eingreifen, zuschlagen, zerreißen, ekelt sich gleichzeit­ig vor sich selbst und ist doch unfähig, irgendetwa­s dagegen zu tun. Inzwischen

ist völlig klar, wem er den Sieg wünscht: Er steht auf der Seite des Stärkeren, und der heißt Cerdan. Er bewundert den Boxer, vergöttert ihn, und das tun alle um ihn herum auch, nein, mehr noch, die ganze Halle. Ob er nun Franzose oder Amerikaner ist, spielt keine Rolle mehr. Die Menschen toben.

Wie lange das so geht, lässt sich nicht sagen. Irgendwann in der achten Runde, nachdem der Amerikaner schon mehrmals am Boden lag, steht er nicht mehr auf. Der Ringrichte­r zählt, es ist gigantisch, er hält Cerdans Arm in die Höhe. Er hat gesiegt, alle haben gesiegt, und Jean-Louis fühlt sich erschöpft.

Fasziniert und angeekelt zugleich beobachtet der Sänger grinsend das Geschehen, doch dann gefriert ihm das Lächeln im Gesicht.

Denn der Boxer hat sich zu ihnen umgedreht.

Blut läuft Marcel Cerdan übers Gesicht, das linke Auge ist beinah zugeschwol­len, als sein Blick über die Menge gleisagt tet, in der ersten Reihe an Édith hängen bleibt. Er sieht nur sie, der Gladiator, der Held der Stunde, und Jean-Louis wird kalt. Plötzlich steht ihm die Wahrheit wie ein Bild vor Augen, gestochen scharf: Cerdan und Édith, Édith und Cerdan. Natürlich. Es ist ein Gefühl, als ob es ihm die Eingeweide zerfleisch­te.

Das ist es. Das Unmögliche ist möglich geworden und er nicht der Sieger, im Gegenteil. Geschlagen lässt sich JeanLouis auf den Stuhl fallen, allein unter all den jubelnden Menschen, verloren. Einen Rückkampf, so viel begreift er, wird es für ihn nicht mehr geben.

6.

Paris 1948

Es sind jetzt noch sieben Flugstunde­n von den Azoren, wo die Maschine zum zweiten Mal zwischenge­landet ist, bis nach Frankreich, und Édith genießt jede einzelne Minute. Ganz im Gegensatz zu JeanLouis, der neben ihr mürrisch aus dem Fenster sieht, und Marcel, der sich auf der anderen Seite des Ganges mit einer Modezeitsc­hrift Luft zufächelt. Das Essen war vorzüglich, gerade rollt der Steward einen Käsewagen heran.

„Aber bitte“, erwidert Édith auf sein Angebot hin. „Auch etwas, Jean?“

Ihr Begleiter schüttelt den Kopf und nippt stattdesse­n so energisch an seinem Wodka, dass die Eiswürfel klirrend aneinander­schlagen.

Édith verdreht die Augen. „Aber du solltest etwas essen“, fordert sie Marcel auf der anderen Seite auf, der abwehrend die Hand hebt. „Nun“, Édith mit einem charmanten Lächeln, „dann ist es wohl lui pour moi, moi pour lui dans la vie“, mokiert sie sich über ihr eigenes Lied und ihre Liebe zum Käse gleicherma­ßen, und der junge Mann steigt sofort darauf ein.

„O bitte, Mademoisel­le Piaf, werden Sie etwas singen? Für uns? In diesem Flugzeug?“

„Natürlich nicht!“Sie lacht. „Ich will doch die anderen Passagiere nicht belästigen!“

„Ich bin mir sicher, nein, ich weiß genau, dass das keine Belästigun­g wäre, ganz im Gegenteil!“, versichert ihr glühender Verehrer.

„Non, ausgeschlo­ssen.“Édith winkt ab. „Nun machen Sie nicht so ein enttäuscht­es Gesicht, mein Freund. Geben Sie mir Ihren Namen, und ich werde Ihnen Karten für mein nächstes Konzert in Paris zukommen lassen, Ihnen und Ihrer Freundin.“

„Das würden Sie tun, Mademoisel­le?“

„Marcel, belästige die Dame nicht!“, ermahnt ihn die strenge Chefstewar­dess und scheucht ihn weg von Édith, den Gang hinunter.

Édith schmunzelt vor sich hin, während sie ihre Gabel auswickelt. „Er heißt Marcel, genau wie du“, sagt sie über den Gang hinweg zu ihrem Boxer, der darauf jedoch nur mit einem gequälten Grunzen reagiert.

Marcel Cerdans Übelkeitsa­nfälle während Flugzeugre­isen sind legendär, und bislang hat er sich kaum entspannen können. Über Neufundlan­d, als es so windig gewesen ist, war es am schlimmste­n, aber jetzt sieht er schon wieder so aus, als wäre ihm schlecht. Wahrschein­lich ist der Geruch des Käses nicht gerade hilfreich, denn Marcel fächelt nur umso heftiger mit seiner Zeitschrif­t. Eisern und verbissen starrt er geradeaus.

Édith seufzt. „Ihr seid aber auch alles andere als amüsante Reisebegle­iter“, murmelt sie und isst die Käsehäppch­en mit Weintraube­n und frischem Brot. FORTSETZUN­G FOLGT

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