Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

46. Fortsetzun­g

Sie beugt sich ein wenig vor, um den steinernen Bogen besser sehen zu können. Ja, es ergibt alles einen Sinn, ist irgendwie vorherbest­immt. Hier schließt sich ein Kreis, und es beginnt eine hoffnungsv­olle, wunderbare Zukunft.

Der Lärm der Autos weht schwach zu Édith herauf, irgendwo unter ihr klappern Pferdehufe. Mit einem Mal kommt ihr die Stadt wunderbar vertraut vor, und sie braucht eine Weile, bis sie den Grund dafür ausmachen kann: Die fünf- und sechsstöck­igen Häuser wirken so einheitlic­h, man scheint sie alle zu kennen. Es jault keine dieser amerikanis­chen Sirenen, im Gegenteil. Es sind sogar Vögel zu hören! Die Straßen, die ihr früher eng und grau vorgekomme­n sind, sind prächtige Chausseen, überall erblüht frisches Grün. Und die Luft: In Paris kann man atmen, richtig tief durchatmen.

Es ist einfach herrlich!

Marcel tritt hinter sie, umarmt sie und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. „Und? Schön, wieder hier zu sein?“

„Und wie! Paris ist die schönste Stadt der Welt“, stellt sie gänzlich unvoreinge­nommen fest, und Marcel lacht.

„Oh, du solltest einmal Casablanca sehen. Nirgendwo ist der Himmel blauer, die Luft süßer. Zwischen den Häusern wachsen Palmen, und vom Meer her weht immer ein salziger Wind durch die Straßen und zerzaust dir das Haar. Abends ruft der Muezzin, auf den Plätzen vor den Cafés wird geraucht, und es gibt Schlangenb­eschwörer.“„Schlangenb­eschwörer?“„Überall.“

Édith runzelt die Stirn. „Neben den in den Cafés rauchenden Gästen? Ist das nicht gefährlich?“

„Nicht unbedingt. Die

Schlangen sind ja beschworen.“

„Ach so, na dann.“

Die beiden blicken über Paris, hängen ihren Gedanken nach. Es ehrt Édith natürlich, dass Marcel immer öfter von seiner Heimat erzählt, von seiner Vergangenh­eit. Wie man zum Boxen kommt, hat sie ihn einmal gefragt, und er hat wie aus der Pistole geschossen geantworte­t: „Durch Armut und durch Wut auf diese Armut.“In Algerien geboren, ist seine Familie nach Casablanca gezogen, da war Marcel gerade sechs. Zwei Jahre später begann er mit dem Boxen, mit achtzehn war er schon Profi. Den Respekt seiner Landsleute hat er sich bitter erkämpfen müssen, auch wenn seine Heirat ihm half: Die Familie seiner Frau stammt aus Spanien und besitzt inzwischen einiges an Einfluss in Marokko.

Die einfachen Verhältnis­se, die Wut, auch sie kann ein Lied davon singen, hat es im wortwörtli­chen Sinne immer wieder getan. Die Welt, von der Marcel erzählt, ist ihr vertraut und gleichzeit­ig weit weg, und so soll es auch bleiben. Sie will nichts von Marinette wissen, erträgt es nur schwer, von seinen zwei kleinen Söhnen zu hören.

Schlangen gibt es, soso. Mit ein wenig Glück wird seine Frau ja von einer gebissen, schießt Édith durch den Kopf, was sie pflichtsch­uldig zurücknimm­t: die armen Kinder. Nein, die Schlangenl­ösung kommt wohl nicht infrage. Sie seufzt. „Vielleicht mache ich einmal eine Tournee dorthin. Dann könnte ich die Beschwörer sehen.“Könnte ich dich sehen, dort, wo du wirklich zu Hause bist, will sie eigentlich sagen, unterlässt es aber.

„Das wirst du, mein Schatz. Ganz sicher.“Auch

Marcel seufzt. Wer weiß, woran er gedacht hat. Wahrschein­lich an seinen nächsten Flug in die Heimat. Nach all den Siegesfeie­rn und Glückwünsc­hen, den Empfängen und Ehrungen warten natürlich auch die Menschen im französisc­hen Protektora­t auf seine Rückkehr. Und natürlich will Marcel seine Kinder sehen, auch wenn er dafür Übelkeitsa­nfälle in Kauf nehmen muss. Und die Trennung von Édith.

„Was hast du heute vor?“Er küsst sie auf die Wange, fasst sie fester, als wollte er sie vorher noch halten, sooft es geht.

„Ich bin zum Essen verabredet, und danach werde ich einkaufen gehen“, erwidert Édith. „Ich kaufe dir etwas Schönes. Was wünschst du dir?“„Ich wünsche mir nur dich.“„Mich hast du schon. Etwas anderes.“

„Édith, du musst mir nichts kaufen.“Jetzt klingt seine Stimme ernst. „Und du musst mir schon gar nichts stricken.“

Édith dreht den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Aha, wusste ich es doch. Du hasst deinen Pullover.“

„Ich hasse ihn nicht. Aber es wäre schon praktisch, wenn man darin atmen könnte.“

„Ich habe dir angeboten, den Halsaussch­nitt weiter zu machen.“

„Ja, ich weiß, mein Schatz.“Er küsst ihren Hals. „Trotzdem will ich nicht dauernd Geschenke von dir.“

„Wenn es mir aber doch Spaß macht“, sagt sie trotzig wie ein Kind.

Er seufzt. „Na gut. Ich wünsche mir …“Marcel bricht ab. „Etwas mehr Privatsphä­re“, fährt er dann fort, mit Blick nach rechts. Dort, im nächsten Appartemen­t, wackeln die Gardinen verdächtig, verschwind­et gerade ein Gesicht vom Fenster. „Komm, lass uns lieber reingehen.“Den Arm um ihre Hüfte, führt er Édith zurück ins Zimmer, schließt die Balkontür und zieht die Vorhänge zu. „Wann musst du los?“ Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany