MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
46. Fortsetzung
Sie beugt sich ein wenig vor, um den steinernen Bogen besser sehen zu können. Ja, es ergibt alles einen Sinn, ist irgendwie vorherbestimmt. Hier schließt sich ein Kreis, und es beginnt eine hoffnungsvolle, wunderbare Zukunft.
Der Lärm der Autos weht schwach zu Édith herauf, irgendwo unter ihr klappern Pferdehufe. Mit einem Mal kommt ihr die Stadt wunderbar vertraut vor, und sie braucht eine Weile, bis sie den Grund dafür ausmachen kann: Die fünf- und sechsstöckigen Häuser wirken so einheitlich, man scheint sie alle zu kennen. Es jault keine dieser amerikanischen Sirenen, im Gegenteil. Es sind sogar Vögel zu hören! Die Straßen, die ihr früher eng und grau vorgekommen sind, sind prächtige Chausseen, überall erblüht frisches Grün. Und die Luft: In Paris kann man atmen, richtig tief durchatmen.
Es ist einfach herrlich!
Marcel tritt hinter sie, umarmt sie und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. „Und? Schön, wieder hier zu sein?“
„Und wie! Paris ist die schönste Stadt der Welt“, stellt sie gänzlich unvoreingenommen fest, und Marcel lacht.
„Oh, du solltest einmal Casablanca sehen. Nirgendwo ist der Himmel blauer, die Luft süßer. Zwischen den Häusern wachsen Palmen, und vom Meer her weht immer ein salziger Wind durch die Straßen und zerzaust dir das Haar. Abends ruft der Muezzin, auf den Plätzen vor den Cafés wird geraucht, und es gibt Schlangenbeschwörer.“„Schlangenbeschwörer?“„Überall.“
Édith runzelt die Stirn. „Neben den in den Cafés rauchenden Gästen? Ist das nicht gefährlich?“
„Nicht unbedingt. Die
Schlangen sind ja beschworen.“
„Ach so, na dann.“
Die beiden blicken über Paris, hängen ihren Gedanken nach. Es ehrt Édith natürlich, dass Marcel immer öfter von seiner Heimat erzählt, von seiner Vergangenheit. Wie man zum Boxen kommt, hat sie ihn einmal gefragt, und er hat wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Durch Armut und durch Wut auf diese Armut.“In Algerien geboren, ist seine Familie nach Casablanca gezogen, da war Marcel gerade sechs. Zwei Jahre später begann er mit dem Boxen, mit achtzehn war er schon Profi. Den Respekt seiner Landsleute hat er sich bitter erkämpfen müssen, auch wenn seine Heirat ihm half: Die Familie seiner Frau stammt aus Spanien und besitzt inzwischen einiges an Einfluss in Marokko.
Die einfachen Verhältnisse, die Wut, auch sie kann ein Lied davon singen, hat es im wortwörtlichen Sinne immer wieder getan. Die Welt, von der Marcel erzählt, ist ihr vertraut und gleichzeitig weit weg, und so soll es auch bleiben. Sie will nichts von Marinette wissen, erträgt es nur schwer, von seinen zwei kleinen Söhnen zu hören.
Schlangen gibt es, soso. Mit ein wenig Glück wird seine Frau ja von einer gebissen, schießt Édith durch den Kopf, was sie pflichtschuldig zurücknimmt: die armen Kinder. Nein, die Schlangenlösung kommt wohl nicht infrage. Sie seufzt. „Vielleicht mache ich einmal eine Tournee dorthin. Dann könnte ich die Beschwörer sehen.“Könnte ich dich sehen, dort, wo du wirklich zu Hause bist, will sie eigentlich sagen, unterlässt es aber.
„Das wirst du, mein Schatz. Ganz sicher.“Auch
Marcel seufzt. Wer weiß, woran er gedacht hat. Wahrscheinlich an seinen nächsten Flug in die Heimat. Nach all den Siegesfeiern und Glückwünschen, den Empfängen und Ehrungen warten natürlich auch die Menschen im französischen Protektorat auf seine Rückkehr. Und natürlich will Marcel seine Kinder sehen, auch wenn er dafür Übelkeitsanfälle in Kauf nehmen muss. Und die Trennung von Édith.
„Was hast du heute vor?“Er küsst sie auf die Wange, fasst sie fester, als wollte er sie vorher noch halten, sooft es geht.
„Ich bin zum Essen verabredet, und danach werde ich einkaufen gehen“, erwidert Édith. „Ich kaufe dir etwas Schönes. Was wünschst du dir?“„Ich wünsche mir nur dich.“„Mich hast du schon. Etwas anderes.“
„Édith, du musst mir nichts kaufen.“Jetzt klingt seine Stimme ernst. „Und du musst mir schon gar nichts stricken.“
Édith dreht den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Aha, wusste ich es doch. Du hasst deinen Pullover.“
„Ich hasse ihn nicht. Aber es wäre schon praktisch, wenn man darin atmen könnte.“
„Ich habe dir angeboten, den Halsausschnitt weiter zu machen.“
„Ja, ich weiß, mein Schatz.“Er küsst ihren Hals. „Trotzdem will ich nicht dauernd Geschenke von dir.“
„Wenn es mir aber doch Spaß macht“, sagt sie trotzig wie ein Kind.
Er seufzt. „Na gut. Ich wünsche mir …“Marcel bricht ab. „Etwas mehr Privatsphäre“, fährt er dann fort, mit Blick nach rechts. Dort, im nächsten Appartement, wackeln die Gardinen verdächtig, verschwindet gerade ein Gesicht vom Fenster. „Komm, lass uns lieber reingehen.“Den Arm um ihre Hüfte, führt er Édith zurück ins Zimmer, schließt die Balkontür und zieht die Vorhänge zu. „Wann musst du los?“ Fortsetzung folgt