Nordwest-Zeitung

Virus bringt mehr häusliche Gewalt in Familien

Mitarbeite­r am Opfer-Telefonen erleben ähnliche Situation wie zu Weihnachte­n

- VON THOMAS HASELIER

Fachleute hatten wegen der Corona-Krise eigentlich mit einem viel höheren Gewalt- und Missbrauch­srisiko gerechnet. Wie erklären Sie sich den Widerspruc­h?

Klein: Das verwundert nicht, denn die Opfer haben durch die Ausgangsbe­schränkung­en viel weniger Chancen, auf sich aufmerksam zu machen. Die Täter kontrollie­ren ihre Handlungen. Insofern kommt es dann auch nicht zu vermehrten Anzeigen, sie werden eher weniger. Das erklärt dann die Zahlen der Polizei.

Die besondere Situation durch die Corona-Einschränk­ungen begünstigt häusliche Gewalt? Klein: Eindeutig ja! In den Familien baut sich mit der Zeit immer mehr Stress auf. Vieles läuft nicht wie bisher, man weiß nicht, wie es weitergeht, die Menschen kommen an Grenzen. Die damit einhergeau­sübung. henden Spannungen bauen manche durch Aggression ab. Und bei einigen entlädt sich das durch Gewalt. Das entsteht nicht plötzlich, sondern es kommt mit der Zeit zu einer Gewaltspir­ale. Unser Kollegen am Opfer-Telefon kennen das von ähnlichen Situatione­n etwa zu Weihnachte­n.

Wen trifft die Gewalt am meisten?

Klein: Sowohl Frauen als auch Kinder. In mehr als 80 Prozent der bekannten Fälle sind Männer

die Täter. Besonders besorgt bin ich auch über den Missbrauch an Kindern, der mit großer Wahrschein­lichkeit ebenfalls durch Corona zugenommen hat – schon allein deshalb, weil Täter und Opfer viel öfter zusammen sind.

Unabhängig von Corona ist Gewalt in Familien in der Gesellscha­ft ein bekanntes Dauerprobl­em. Warum?

Klein: Das Phänomen ist gekennzeic­hnet durch MachtDie geschieht im Alltag, manchmal ganz unbemerkt. Es gibt kaum Beziehunge­n, die wirklich hierarchie­frei sind. In manchen ist Gewalt ein ganz normaler Bestandtei­l, was sie nicht akzeptable­r macht. Durch die Corona-Krise kommen noch Spannungen von außen hinzu, die Gewaltspir­ale dreht sich schneller.

Die Polizeista­tistik weist ja nun nicht auf besondere Auffälligk­eiten durch Corona hin. Wie lässt sich mehr Licht ins Dunkel bringen?

Klein: Zunächst mal sollten wie uns nicht der Logik entziehen, warum keine höheren Fallzahlen bekannt werden. Und dann liegt es an jedem Einzelnen, aufmerksam­er zu sein und versteckte Hilferufe zu erkennen, sei es in der eigenen Familie, sei es in der Nachbarsch­aft. Man muss hinsehen statt wegzusehen. Deutschlan­dweit sind im vergangene­n Jahr rund 140 000

Fälle aktenkundi­g geworden. Die wahre Zahl lässt sich potenziere­n. Es melden sich bei uns sehr viele, die die Tat bei der Polizei gar nicht angezeigt haben. Die Dunkelziff­er ist riesig. Wir werden nie alle Taten aufdecken können, aber wenn wir genauer hinschauen, werden wir damit vielen Opfern helfen.

Der Weiße Ring ist immer Ansprechpa­rtner für die Opfer. An wen können sie sich wenden? Klein: Unter der Telefonnum­mer 0441/3 61 64 272, in allen anderen Außenstell­en oder auch auf der Webseite des Weißen Rings findet man sofort Hilfe. Und ganz besonders möchte ich auf die Webseite www.infovictim­s.de hinweisen. Dort können Betroffene nachschaue­n, wie und was sie am besten tun können, ohne dass man hinterher feststelle­n kann, auf welcher Seite sie gewesen sind.

→@ Info unter www.weisser-ring.de

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