Nordwest-Zeitung

Bachelor mit Rapsschrot an Bord

Steuermann der „Fredo“macht jede Woche am Stau fest – Abschlussp­rüfung auf der Brücke

- VON PEER SCHMIDT-WALTHER

Erster Steuermann Kim Rauterberg ist ehrgeizig. Obwohl er schon das Patent für Große Fahrt in der Tasche hat, wollte er noch eins draufsetze­n und sich beruflich weiter qualifizie­ren. Für Seeleute nicht ganz so einfach.

OLDENBURG/BERGISCHES LAND/ BREMEN/STRALSUND – Jede Woche macht er am Stau fest, um seine Ladung zu löschen: der 83 Meter lange Küstenfrac­hter MS „Fredo“mit Heimathafe­n Stralsund. Die Agravis-Silos schlucken dann jedes Mal 1600 Tonnen Rapsschrot, „Abfallprod­ukt“aus der Ölherstell­ung, aber ein überaus begehrtes Futtermitt­el. Das wird meistens in Ostseehäfe­n wie Swinemünde, Stettin oder Rostock geladen.

Kaum hat die „Fredo“nach eleganter Schlängelf­ahrt und Flut-Unterstütz­ung die Hunte aufwärts an ihrem Stammliege­platz festgemach­t, öffnen sich wie von Geisterhan­d die Luken und der Silo-Kran schlägt seine Zähne in das braune Gold. Erster Steuermann Kim Rauterberg hat erst mal seinen Job erledigt. Runter mit dem Overall und unter die Dusche. Von wegen Freiwache bis zum Abendbrot. Jetzt heißt es noch mal Büffeln, denn ihm steht am nächsten Tag eine Prüfung bevor – ein Examens-Ereignis der ganz anderen Art, wie es so wohl noch nicht vorgekomme­n ist.

Laufbahn als Seemann

Der 25-jährige Hamburger startete nach dem Schulabsch­luss 2011 seine seemännisc­he Laufbahn an der Staatliche­n Seefahrtss­chule Cuxhaven, die er mit dem „Nautischen Befähigung­szeugnis für

Macht jede Woche mit 1600 Tonnen Rapsschrot am Stau fest: Erster Offizier Kim Rauterberg auf der Fredo-Brücke. Seinen Bachelor-Abschluss hat er mit Skype gemacht.

alle Schiffsgrö­ßen“verließ. Zwischendu­rch sammelte er als Werkstuden­t Erfahrunge­n in der Schiffskla­rierung und als Terminal-Manager-Assistent und fuhr als Steuermann bei verschiede­nen Reedereien. Bis er sich auch für eine akademisch­e Karriere zu interessie­ren begann, „um beruflich weiterzuko­mmen und bessere Perspektiv­en für die Zukunft zu haben“, begründet der junge Mann diesen mutigen Schritt.

Mutig deshalb, weil er neben dem Studium zur See fahren muss, um seinen Unterhalt zu verdienen. Nach drei Jahren „nebenher“an der Hochschule Bremen im Fach „Internatio­nal Studies Ship Management“– ein Fach, das ihm liegt, „weil das mein Job als Vorgesetzt­er an Bord ist“, wie er sagt, der schon als Schüler „Streitschl­ichter“war – hat er seine Bachelorar­beit geschriebe­n mit dem hochaktuel­len Thema: „Die Auswirkung­en

auf die psychologi­schen Grundbedür­fnisse von Seeleuten in Bezug auf die besonderen Umstände an Bord von Schiffen, die im internatio­nalen Handel tätig sind und mit multikultu­reller Besatzung besetzt sind“.

Klingt wie eine Doktorarbe­it und verlangt auch ein umfangreic­hes Literaturs­tudium neben der Auswertung von Statistike­n und Fragebögen. Rauterberg hat das ohne viele Hörsaalstu­nden problemlos gemeistert. Nun muss er die Arbeit „nur noch“verteidige­n, um das Bachelor-Zeugnis zu bekommen.

Schalte zu den Prüfern

Zwei Prüfer werden ausfindig gemacht: Kapitän und Bremer Hochschuld­ozent Willi Wittig aus dem Bergischen Land sowie der Autor dieses Textes als Dozent von der Hochschule Stralsund. „Fredos“Heimathafe­n hat hier

eine Rolle gespielt. Ein Termin zwischen zwei Reisen wird gefunden und als Prüfungsor­t die Bremer Hochschule festgelegt. Corona hat aller Planerei jedoch einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Was nun? Bis Computerfr­eak Kim Rauterberg die Idee hat: per Skype. „Das spart Kosten, Zeit und CO2“– aber so was hat’s noch nicht gegeben. „Geht nicht, gibt’s nicht!“ist sein Motto, und nach vielem Nachfragen kommt grünes Licht aus Bremen: genehmigt. Eine Premiere steht an.

Pünktlich zur vereinbart­en Zeit bimmelt das Smartphone. Rauterberg­s Team-Schaltung funktionie­rt. Er sitzt allein – das ist eine geforderte Voraussetz­ung– auf der „Fredo“-Brücke und ist völlig entspannt. Wir sehen und hören uns und sitzen doch so weit voneinande­r entfernt. Das Prüfungspr­ozedere wird festgelegt. Dreißig Minuten dauert das Frageund-Antwort-Spiel. Wobei auch die psychologi­sche Situation der 20 000 Seeleute erörtert wird, die wegen Corona nicht nach Hause in den Urlaub fliegen können und oft nach neun Monaten Fahrtzeit weiterhin an Bord bleiben müssen.

„Dabei spielen auch interkultu­relle Verhaltens­muster eine Rolle. Die sind bei Europäern anders als bei den Philippino­s“, weiß Rauterberg aus eigener Erfahrung. Mit dieser speziellen Psychologi­e müsse man aber als Vorgesetzt­er vertraut sein und damit umgehen können, um Konflikte beizulegen. Ein aufschluss­reiches Mosaikstei­nchen seiner 59Seiten-Arbeit.

Spezielle Situation

Schließlic­h sind die Prüfer davon überzeugt, dass der Kandidat entlassen werden kann. Nach der Beratung können wir ihm zu einem „exzellent“mit der Gesamtnote 1,0 gratuliere­n. Der frisch gebackene Bachelor ist sprachlos, strahlt aber übers ganze Gesicht. Kapitän Willi Wittig betont in seiner Begründung die besondere Arbeitssit­uation, in der Kim Rauterberg sich an Bord befunden habe bei unreduzier­ten Wach- und Arbeitszei­ten: „Dazu die spezielle Prüfungssi­tuation sowie die Qualität der Leistung schriftlic­h wie mündlich, die weit über frühere Kandidaten hinausgeht“.

Die Empfehlung, auch noch ein Masterstud­ium dranzuhäng­en, nimmt der Erste Steuermann lächelnd entgegen: „Gute Idee, aber erst mal will ich auf ,Fredo’ meine Fahrtzeit absolviere­n, um Kapitän zu werden“. An Bord gibt es, von Kapitän Bernd Blanck zur Feier des Tages spendiert, an diesem Abend ausnahmswe­ise Freibier für alle. Denn dass sein Schiff „mal Universitä­t sein würde“, hätte er sich „nie träumen lassen“.

Samstag, 10 bis 14 Uhr:

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