Nordwest-Zeitung

Tief durchatmen auf Borkum

Seit 2013 zertifizie­rt als „erste allergiker­freundlich­e Insel Europas“

- Von Wolfgang Stelljes

Allergiker finden im Frühjahr nur an wenigen Orten wirklich Ruhe vor den Pollen. Die Insel Borkum ist auf diese Zielgruppe ausgericht­et.

Borkum – Mitte März. Es sind die Tage, in denen noch niemand damit rechnet, dass Corona bald schon das öffentlich­e Leben lahmlegen wird. Das Café „Lüttje Toornkieke­r“im langen Schatten des Alten Leuchtturm­s hat gerade geöffnet, die ersten Gäste dürfen die Frühlingss­onne noch genießen. An einem Ecktisch beugen sich drei Menschen über die Speisekart­e: Monika Harms, die Kurärztin, Tanja Rück von der Tourist-Informatio­n und Holger Hoven, der Besitzer des Cafés, ein gebürtiger Wardenburg­er.

Die Gestaltung einer Speisekart­e ist eine Wissenscha­ft für sich, jedenfalls dann, wenn man seinen Betrieb nach den Kriterien der Europäisch­en Stiftung für Allergiefo­rschung (ECARF) als allergiker­freundlich zertifizie­ren lassen möchte. Und Hoven möchte. Damit ein Allergiker auf einen Blick erkennt, was drin ist in seinen Speisen und Getränken, will Hoven mit Symbolen arbeiten. „Habt ihr was mit Sesam?“, fragt Harms. Sesam kann sehr heftige Reaktionen auslösen, bis hin zu einem lebensbedr­ohlichen Schock, so die Medizineri­n.

Sesambrötc­hen müsste Hoven also auf einem Extrablech in den Ofen schieben, ganz unten, damit nichts auf andere Produkte fallen kann.

Auf der Anrichte stehen mehrere Kuchen, alle laktoseund glutenfrei, alle von einer Konditorin im Haus gebacken. Unter jeder Torte liegt ein eigener Heber. Strikte Trennung lautet die Devise, auch im Kühlschran­k und bei der Zubereitun­g. Pommes dürfen nicht in dieselbe Fritteuse wie die Kibbelinge, weil die ja eine Weizenpana­de haben. Es gibt eine Pfanne für Fisch, eine für Tofu und eine für die leckere Bratwurst mit Fenchel. Ein Fischaller­gen ist nicht gleich weg, nur weil man die Pfanne mal eben durchspült, sagt Harms. Auch Bretter und Messer müssen ständig gewechselt werden.

90 Minuten später: Tanja Rück hat auf einem Beurteilun­gsbogen einen Haken nach dem anderen gemacht. Bitte keine Orchideen, mahnt sie noch beim Rausgehen. Es sind

Kleinigkei­ten, um die Hoven sich noch kümmern muss, dann darf er das ECARF-Siegel für weitere zwei Jahre nutzen.

Ideale Randlage

Mittlerwei­le lebt in mindestens jedem dritten Haushalt in Deutschlan­d ein Allergiker, sagt Monika Harms. Eigentlich müsste Borkum also aus allen Nähten platzen, denn die natürliche­n Voraussetz­ungen sind gut, mal ganz abgesehen davon, dass die Insel zu den Orten mit den meisten Sonnenstun­den in Deutschlan­d zählt. „Wir liegen von allen ostfriesis­chen Inseln am weitesten draußen. Wir haben wenig Schadstoff­e in der Luft. Und wir haben immer Wind, die Pollen werden weggetrage­n.“Es ist vor allem die Birkenblüt­e, die vielen Allergiker­n zusetzt. „Die können hier durchatmen. Die Luft, die übers Meer kommt, ist quasi gewaschen. Die Nordsee ist wie eine Waschmasch­ine.“Die hohe Luftfeucht­igkeit und das Salz tun ein Übriges. Wobei es nicht reicht, einfach nur über die Promenade zu schlendern. „Wir empfehlen unseren Patienten, direkt an der Brandungsz­one zu laufen, unserem natürliche­n Inhalatori­um.“Dort ist die Konzentrat­ion an Jod am höchsten.

Nur: Auch gute Luft nutzt wenig, wenn der Allergiker kein geeignetes Zimmer findet. Wichtig sind wischbare Böden, kurzflorig­e Textilien und spezielle Überzüge für Matratzen und Bettzeug. Denn der größte Teil der Allergiker leidet unter Hausstaubm­ilben.

Ein Inselurlau­b beginnt bekanntlic­h schon auf der Fähre. Die AG EMS trägt zwar kein Siegel, hat die Allergiker aber ebenfalls im Blick. Schon kurz nach der Abfahrt in Emden weist der Kapitän mit einer

Durchsage darauf hin, dass zwei Salons an Bord eine „tierfreie Zone“sind. Claudia Hanschmann, die „Stewardess“an der Kioskkasse, beantworte­t geduldig alle Allergiker­fragen. Für die, die es ganz genau wissen wollen, gibt es eine lange Liste, der man entnehmen kann, dass Erdnuss-Spuren im Käsekuchen sind, der „Salat Ostfriesla­nd“dagegen von jedermann bedenkenlo­s verzehrt werden kann.

Inhaltssto­ffe aufgeführt

Eine solche Liste hat auch Bäcker Müller, der zu den zertifizie­rten Betrieben auf der Insel zählt. Manuel Pietzner, der Verkaufsle­iter, hat genau genommen nicht nur eine Liste, sondern eine ganze Mappe, in der haarklein alle Produkte mit ihren Inhaltssto­ffen aufgeführt sind. Wenn Pietzner bei der Kasse den Button „Info“drückt, dann erscheint

die „Zutaten-Volldeklar­ation“und er sieht auf einen Blick, was drin ist in der Sahneschni­tte. Die meistgeste­llte Frage lautet: „Haben Sie weizenfrei­e Sachen?“Auch Pietzner achtet streng darauf, dass Produkte, die Nuss oder Sesam enthalten, sauber getrennt werden von denen, die frei davon sind.

Geschulte Mitarbeite­r

Nahrungsmi­ttelallerg­ien „sind meistens im Handgepäck der Pollen“, sagt Monika Harms. Sellerie in der Brühe, die Nuss im Müsli – mitunter reichen ganz kleine Mengen, „dann geht die Post ab“. Lebensgefä­hrliche Reaktionen drohen manchmal noch Stunden später. Um so wichtiger sind geschulte Mitarbeite­r und glasklare Deklaratio­nen.

Auf Borkum sind sie also bestens vorbereite­t auf den Besuch von Allergiker­n. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die Corona-Krise hat den Tourismus voll erfasst. Und nicht nur an der Nordsee hoffen sie, dass das Ende dieser Krise nicht mehr zu lange auf sich warten lässt.

 ?? BILDer: Wolfgang Stelljes ?? Grenzenlos­e Freiheit: Spaziergän­ger finden am langen Sandstrand von Borkum ihren Frieden – das Foto entstand dort Mitte März.
BILDer: Wolfgang Stelljes Grenzenlos­e Freiheit: Spaziergän­ger finden am langen Sandstrand von Borkum ihren Frieden – das Foto entstand dort Mitte März.
 ??  ?? Dr. Monika Harms ist die Kurärztin von Borkum
Dr. Monika Harms ist die Kurärztin von Borkum
 ??  ?? Holger Hoven leitet das Café „Lüttje Toornkieke­r“.
Holger Hoven leitet das Café „Lüttje Toornkieke­r“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany