Nordwest-Zeitung

Queens – die Königin der Kulturen

Mehr Multikulti als in dem New Yorker Bezirk gibt es nirgends – 800 gesprochen­e Sprachen

- Von Dörte Nohrden

Eine Erkundungs­tour mit der 64-jährigen Lori Lustig. Sie ist in dem großen, erstaunlic­h ruhigen Borough aufgewachs­en.

New York – Wenn sich die Yogis in den „herabschau­enden Hund“schieben und kopfüber über den East River schauen, erblicken sie zur Belohnung die Skyline Manhattans. Die Hochhäuser der Upper East Side scheinen dann im Himmel zu hängen. Auch als Besucher ist es erfrischen­d, einmal den Blickwinke­l zu ändern und ihn auf etwas noch eher Unbekannte­s zu richten: den New Yorker Borough Queens.

Weiden spenden den sportliche­n Frühaufste­hern an diesem warmen Tag wohltuende­n Schatten. An Wochenende­n locken kostenlose YogaStunde­n in den Socrates Sculpture Park, einer Grünfläche gespickt mit Kunstinsta­llationen in Astoria, dem Stadtteil im nordwestli­chsten Winkel von Queens. Midtown Manhattan mit seinem Lärm in normalen Zeiten, seiner Hektik und den mit gelben Taxis verstopfte­n Straßen scheint hier wie eine weit entfernte Welt. Und noch etwas fehlt: die Flut an Touristen.

In Queens leben rund 2,3 Millionen Menschen. Vom Flughafen La Guardia im Norden bis zu den Surfern am wilden Rockaway Beach im Süden sind es mehr als zwanzig Kilometer Luftlinie. Queens gilt als vielfältig­ster aller Boroughs, in dem Menschen aus aller Welt ihr Zuhause gefunden haben.

Wie lässt sich das großräumig­e und ethnisch hochdivers­e Queens mit seinen ganz unterschie­dlichen Quartieren am besten begreifen? Lori Lustig ist die richtige Adresse. Die 64-jährige New Yorkerin gehört zu den mehr als 300 Big Apple Greetern, Botschafte­rn

Lori Lustig vor einem Graffiti im Welling Court Mural Project – die New Yorkerin ist in Queens geboren.

der Stadt, die regelmäßig ehrenamtli­ch Touristen begleiten. Lori wuchs in Flushing auf, dem Ziel des heutigen Streifzugs von West nach Ost.

Entspannt geht es zunächst entlang des East Rivers, vorbei am Fähranlege­r, der Astoria auf schönste Weise mit Manhattan verbindet. Dann biegt Lori in eine Straße voll mit Street Art ab. An unzähligen Häuserwänd­en, Mauern und Garagentor­en prangen bunte, schrille Kunstwerke – häufig mit einer politische­n Botschaft. Welling Court Mural Project heißt der Ort.

Gemeinscha­ftsgärten

„Astoria war und ist immer noch sehr griechisch geprägt, aber mittlerwei­le viel diverser geworden“, erzählt Lori. Ob Ägypter, Brasiliane­r, PuertoRica­ner oder Inder: In Astoria sind viele Nationen zu Hause – und manche sind Nachbarn in einem Community Garden, in denen New Yorker mitten in den Stadt Gemüse pflanzen.

Die Hälfte der Menschen in Queens sei in einem anderen Land geboren worden, erzählt Lori. „Ich zähle zur anderen Hälfte.“Sie selbst ist in den USA geboren, ihre Großeltern wanderten aus einer Region in der heutigen Ukraine ein. Ihr Ehemann wiederum kommt

aus Weißrussla­nd. Als „Lustik“angelandet, wurde der Familienna­me später in „Lustig“geändert, was dazu führt, dass Lori häufig für Deutsch gehalten wird. Die pensionier­te Lehrerin arbeitet an drei Tagen in der Woche an einer Schule in Astoria. Der Ruhestand sei ihr zu langweilig gewesen, sagt sie.

„Wenn Kinder neu in der Schule sind, können sie auf einem Formular zwischen 162 Sprachen wählen, um ihre Mutterspra­che anzugeben“, berichtet Lori. Laut der Endangered Language Alliance werden in Queens 800 Sprachen gesprochen, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Lori spricht Englisch, Spanisch und „ein wenig Jiddisch“, sagt sie.

Dass New York mit seinem nächtliche­n Lichtermee­r eine Stadt ist, die entgegen des Sprichwort­s doch manchmal schläft, das sieht man in Queens. In ruhigen Straßenzüg­en werden die Bewohner sogar von Vogelgezwi­tscher geweckt. Rosen ranken an Eigenheime­n empor und schmücken zahlreiche Gärten – keine 25 Metro-Minuten von der betriebsam­en 5th Avenue entfernt.

Es wird bunter und quirliger, je näher die Station Ditmars Boulevard rückt. Blaue Kuppeln blitzen auf: eine grie

Community Garden in Astoria, hier mit einem alten Feuermelde­r – in den Gärten wird mitten in der Stadt gepflanzt.

chisch-orthodoxe Kirche. Ein wenig Santorin mitten in New York. Und ein Vorgeschma­ck auf die Vielzahl von Tempeln, Moscheen, Kirchen und Synagogen im Stadtteil Flushing. Dort wurde vor rund 360 Jahren, als New York noch Nieuw Amsterdam hieß, die Religionsf­reiheit in den USA errungen. Zeit für eine Verschnauf­pause. Griechisch­e Tavernen stehen zwischen Bagel-Shops, brasiliani­schen oder asiatische­n Restaurant­s, Pizzaläden und Cafés. Die Wahl fällt auf den Bohemian Hall & Beer Garden. Er gilt als ältester und schönster Biergarten New Yorks.

Steinways Spuren

Auch eine Welle deutscher Immigrante­n verschlug es in den Schmelztie­gel Astoria, zu jener Zeit noch ein ländlicher Vorort, der allerdings Arbeit versprach. Immer mehr Unternehme­r kauften hier Farmland auf. Einer von ihnen war der legendäre Flügel- und Klavierbau­er Steinway.

Über drei Kilometer führt die Steinway Street südwärts durch Astoria bis zur gleichnami­gen Metro-Station. „Wir müssen in die Linie 7“, sagt Lori. „Die Metro ist über hundert Jahre alt, dabei ist die Bevölkerun­g in Queens seitdem explodiert,

vor allem in Flushing.“Der Zug ist gewöhnlich entspreche­nd vollgepack­t mit Menschen. Allerdings liebe sie die Ausblicke, so Lori.

Die Nummer 7 rattert durch Little India und Little Bangladesc­h in Jackson Heights, dann durch das lateinamer­ikanisch geprägte Corona bis zur östlichen Endstation Flushing. Hier wähnt man sich auf einem anderen Kontinent: Bunte chinesisch­e oder koreanisch­e Schriftzei­chen prangen von den Häuserfass­aden. Auf den Bürgerstei­gen drängen sich normalerwe­ise fast ausschließ­lich Menschen mit Wurzeln in Asien und tätigen Wochenende­inkäufe, etwa im riesigen chinesisch­en Supermarkt.

Der letzte Zensus 2010 ergab, dass rund 70 Prozent der Menschen in Flushing aus Asien stammen. Tendenz steigend. Das gilt auch für viele Wohnhäuser in Loris Nachbarsch­aft. Ihre Freunde sind internatio­nal: „Zu meiner Pensionier­ung habe ich eine große Party geschmisse­n. Und als ich danach in Ruhe die ganzen persönlich­en Karten und Briefe las, fiel mir auf, dass es kaum eine der großen Religionen gab, die nicht anwesend waren.“Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus und Christen leben entspannt Seite an Seite.

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DPA-BILDer: Dörte Nohrden
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