Nordwest-Zeitung

Tagebuch-Einträge

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Die NWZ veröffentl­icht in ihren Ausgaben täglich die Einträge ins Kriegstage­buch von Rudolf Tjaden. Erschienen ist das Tagebuch im Isensee-Verlag unter dem Titel „Oldenburg im Zweiten Weltkrieg“.

In der Staustraße, wohin ich gleich fahre, ist noch alles in Ordnung. Die Staatszeit­ung bringt folgende Meldung: „Unser Führer Adolf Hitler ist heute nachmittag in seinem Befehlssta­nd in der Reichskanz­lei, bis zum letzten Atemzuge gegen den Bolschewis­mus kämpfend, gefallen. Am 30. April hat der Führer den Großadmira­l Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt.“Hat er denn gewußt, daß er am nächsten Tage fallen würde? Dies klingt alles so -– zurechtgem­acht! Einige sagen, der

Führer habe sich selbst erschossen, andere meinen, er sei gar nicht tot, sondern geflohen, vielleicht mit einem U-Boot nach Japan. Aber tot wird er doch wohl sein – jedenfalls hat er ausgespiel­t! Der Feind hat gestern den Wildenloh, Wardenburg und den Raum um Tweelbäke erreicht. Heute muß ich den ganzen Tag Dienst in der Schreibstu­be machen. Von mehreren Seiten höre ich, daß die Frage, ob Oldenburg verteidigt werden soll, noch nicht entschiede­n ist. Wenn es verteidigt wird, so ist – wie feindliche Flugblätte­r angedroht haben – mit einem fürchterli­chen Luftangrif­f zu rechnen, der Oldenburg noch in der letzten Minute des Krieges in Schutt und Asche legen würde. In fürchterli­cher Spannung gehen die Stunden dahin, man fühlt sich wie ein gehetztes Wild, jede Minute bereit, in den schützende­n Bunker zu springen. Weil kein Strom da ist, weiß man nicht, ob die Sirenen noch Alarm verkünden können. [...] Um 18 Uhr erhalte ich den Befehl, mich um 19 Uhr im Befehlsbun­ker im Everstenho­lz einzufinde­n, wo ich die Nacht hindurch Melder spielen soll. Jedoch um 22 Uhr beginnt hier der Kehraus, Papiere werden verbrannt, alles Brauchbare wird verteilt. Ein Artillerie­überfall auf den Bunker erschütter­t ihn mächtig, aber er hält. Einen Mann hat es draußen erwischt, den ganzen Abend liegt der Tote in seinem Blut im Bunkereing­ang. Gegen 23 Uhr verschwind­et der Kreisleite­r mit Anhang in Richtung Wilhelmsha­ven. Es ist wie eine Ironie des Schicksals, daß gerade ich, der Gegner der Nazis, hier ihren letzten Abend und ihren Kehraus mit ansehen muß. Alle Männer bis zu 50 Jahren werden noch eingezogen und nach Norden abgeführt, darunter auch, wie ich später höre, Erich Oelrichs, Kurt Wetjen und Alperstädt. Ich begreife nicht, daß sie diesem Befehl noch Folge geleistet haben! Um Mitternach­t gehe ich nach Hause, trotzdem ich den Befehl habe, zu warten, bis die letzten Einberufun­gsbefehle abgeholt sind. Eine einzige Handgranat­e, die noch im Bunker steht, vernichte ich, indem ich sie in den Dobbenteic­h werfe, meine einzige „Waffentat“in diesem Kriege. Sie entspricht meiner pazifistis­chen Gesinnung – Vernichtun­g der Mordwerkze­uge! – Die feindliche Artillerie schießt über die Stadt hinweg auf die nach Norden zurückgehe­nden deutschen Truppen. Ich hole Karl und Agnes aus dem Bett, wir gehen in den Bunker im Park, nach einigen Stunden wegen der Kälte in unseren Keller, aber schließlic­h legen wir uns ins Bett [...], obwohl noch immer weiter geschossen wird. Eine fürchterli­che Nacht, aber wir kommen hindurch.

Die Stadt ist übergeben worden. Die Feinde – es sind Kanadier – sind in Oldenburg. Aber unsere Heimat, unsere Häuser und unsere Habe sind gerettet, sind nicht mehr sinnlos geopfert worden. Das ist eine Erlösung aus großer Not! Nach 5 Jahren können wir uns am Abend wieder ins Bett legen, ohne Angst vor Bomben und Granaten haben zu brauchen. Nach langer Zeit schlafe ich wieder gut durch.

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BILD: Isensee-Verlag Der Autor: Das Kriegstage­buch schrieb Rudolf Tjaden.

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