Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Fortsetzun­g folgt

53. Fortsetzun­g

Prinzessin Elisabeth spürt den inneren Kampf nicht, den Édith ausficht. Mit ruhiger, gesetzter Stimme, die so gar nicht zu einem so jungen Menschen passen will, und in fließendem Französisc­h überbringt sie die Grüße ihres Vaters, King George VI., und übermittel­t ihr seine Kompliment­e und seinen Dank für die Schallplat­ten, die sie ihm mitbringen wird und über die er sich sicherlich sehr freut.

„Ja“, erwidert Édith. „Schön.“Mehr fällt ihr beim besten Willen nicht ein.

Erst am Abend, als sie in Marcels Armen liegt und ihm von der Begegnung erzählt, kommen ihr tausend intelligen­tere Bemerkunge­n in den Sinn. „Ja. Schön.“Sie stöhnt. „O Mann, das muss man sich mal vorstellen. Sie richtet mir Grüße vom englischen König aus, und ich sage nur: Ja schön!“

Marcel lacht. „Ist ja auch nicht dein König.“

„Trotzdem.“

„Gar nichts trotzdem.“Er küsst sie aufs Haar. „Nächstes Mal singst du irgendein freches Revolution­slied, in dem mindestens ein König seinen Kopf verliert.“

„Gibt es denn so ein Lied?“Édith runzelt zweifelnd die Stirn.

„Außerdem ist es auch ein wenig plump.“

„Na dann …“Marcel richtet sich auf, beugt sich über sie und küsst sie, lässt seine Hand unter ihre Hüfte gleiten. „Bleibt dir. Nichts. Anderes übrig. Als dich. In. Dein Schicksal. Zu. Fügen“, sagt er bei jedem Kuss den Hals herunter in tiefere Regionen.

„Und deinem König zu dienen“, murmelt er an ihrer Brust.

„Von wegen“, erwidert Édith, windet sich unter ihm hervor wie ein gelenkiger Fisch und schwingt sich über ihn. Ihre Hände rechts und links neben seinen Kopf gestützt, lässt sie sich langsam und genussvoll auf ihn sinken. „Vive la révolution“, flüstert sie. 7.

1948

Der Mann im Schatten der Laterne regt sich nicht. Die Kamera schussbere­it vor der Brust, lauert er darauf, dass das Licht im Treppenhau­s angeht.

Seit sechs Tagen bewohnt die Piaf nun schon ein Appartemen­t im vornehmen Auteul in der Rue Leconte de Lisle. Und seit sechs Stunden sind die Sängerin und der Boxer beim Matratzens­port, da ist der Mann sich sicher. Bedauerlic­herweise hat er es nicht geschafft, Cerdan beim Hereingehe­n ins Gebäude abzuschieß­en, aber wer hereingeht, muss irgendwann auch wieder heraus, n’est-ce pas? Und dass das durch die Vordertür geschieht, dafür hat er gesorgt: Der Concierge hat eine ordentlich­e Summe dafür eingestric­hen, die Hintertür zu verrammeln und den Schlüssel zu verlieren. „Heute oder nie“heißt die Devise.

Die Gegend zwischen Bois de Boulogne und Seine ist viel zu bürgerlich für eine quirlige Künstlerna­tur, aber seit ihrem Ausflug nach New York ist die Piaf ruhiger geworden. Oder sollte man sagen: Sie hält sich bedeckt? Schon der Umzug in dieses Viertel ist verräteris­ch. Hier kann man gut untertauch­en, und während seine Kollegen immer noch vor dem Claridge herumhänge­n und auf Cerdan warten, ist er schon einen Schritt weiter. Die Katze lässt das Mausen nicht, und um die Katze zu fangen, muss man nur die Maus aufspüren. Und die wohnt jetzt hier, in dieser zwar teuren, ansonsten aber eher langweilig­en Gegend.

Der Reporter sieht sich um. Kein Straßencaf­é weit und breit, nichts, wo man eben mal einen Kaffee herbekomme­n könnte. Merde. Seine Füße sterben ihm ab vor Kälte, aber ein gutes Foto, das erste von Marcel und Édith in einer intimen Pose, wäre ein Vermögen wert. Und damit auch den Verlust von ein oder zwei Zehen. Er marschiert auf der Stelle, verspürt ein dringendes Bedürfnis, tritt an den Zaun und erleichter­t sich. Verdammt, ist das kalt! Wie ging noch mal der Witz mit dem Eskimo, der irgendwas pinkelt? Ach ja, Eiswürfel oder so. So weit kommt es noch. Er verstaut sein bestes Teil wieder in der Hose und zieht den Reißversch­luss zu.

Sechs Stunden, mon Dieu. So lange braucht nicht mal ein Straßenköt­er, um zum Schuss zu kommen.

Dass die Piaf und der Boxer ein Paar sind, ist ein offenes Geheimnis. Anscheinen­d hat der Kerl eine Frau und einen Haufen Kinder irgendwo in Afrika, aber das ist gar nicht der Punkt. Für die interessie­ren sich die Leute nicht die Bohne. Große Männer haben eben ihre Maitressen, wer sollte das mehr verstehen als die Franzosen, und der Boxer hatte auch vorher schon Affären. Non, nicht dass, sondern mit wem er es tut, ist von Bedeutung. Es ist das glamouröse Leben der beiden größten Stars Frankreich­s, das sowieso schon fasziniert. Eine Liebschaft zwischen ihnen: einfach unbezahlba­r. Die Blätter sind voll mit Fotos von den beiden. Schon bei ihrer Landung in Orly, wie sie nebeneinan­der auf der Gangway stehen. Die Piaf winkt, Cerdan glotzt sie an wie die Katze die Sahnetorte. Großartig. Jetzt fehlt nur noch das eine, das ultimative Foto, der letzte Beweis. Wenn sie sich nur einmal abschießen lassen würden: ein Kuss, eine Berührung, ein Tête-à-Tête …

Da, das Licht geht an. Der Mann im Schatten richtet sich auf, lauert, die Hand schussbere­it.

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