Nordwest-Zeitung

Schuss vor den Bug für die EZB

Was das bemerkensw­erte Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts bedeutet

- VON ANJA SEMMELROCH UND JÖRN BENDER

Im Dauer-Krisenmodu­s pumpt die Europäisch­e Zentralban­k viele Milliarden Euro in die Märkte. Jahrelang haben die Verfassung­srichter zähneknirs­chend zugeschaut. Jetzt setzen sie ein Ausrufezei­chen.

KARLSRUHE/FRANKFURT – Für die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) ist es ein Schuss vor den Bug, für das höchste Gericht der EU ein Affront sonderglei­chen: Das Bundesverf­assungsger­icht beanstande­t die milliarden­schweren Staatsanle­ihenkäufe der Notenbank – und wischt damit ein Urteil aus Luxemburg einfach vom Tisch. Angesichts der CoronaKris­e lassen die Richter trotzdem Umsicht walten. Was das Karlsruher Urteil (Az.: 2 BvR 859/15 u.a.) vom Dienstag bedeutet:

Um welche Anleihenkä­ufe geht es

Zwischen März 2015 und Ende 2018 hat die EZB unter ihrem damaligen Präsidente­n Mario Draghi rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanle­ihen und andere Wertpapier­e investiert – den allergrößt­en Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), um das es in Karlsruhe ging. Kurz vor Ende seiner Amtszeit setzte Draghi noch eine Neuauflage durch: Seit dem 1. November 2019 erwirbt die EZB wieder regelmäßig Wertpapier­e von Staaten, zunächst in vergleichs­weise geringem monatliche­n Umfang von 20 Milliarden Euro. Die Zentralban­k kauft die Anleihen nicht direkt bei den Staaten, sondern auf dem sogenannte­n Sekundärma­rkt – also etwa von Banken.

Bezieht sich das Urteil auch auf die Corona-Hilfen der EZB

Ausdrückli­ch nicht, stellt Gerichtspr­äsident Andreas Voßkuhle klar. Um die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise abzufedern, investiert die EZB bis Jahresende über laufende Kaufprogra­mme 120 Milliarden Euro zusätzlich, vor allem in Unternehme­nspapiere. Außerdem steckt die EZB 750 Milliarden Euro über ein Notprogram­m (Pandemic Emergency Purchase Programme/PEPP) in Staats- und Unternehme­nsanleihen.

Warum kauft die EZB überhaupt Wertpapier­e

Hauptziel ist ein ausgewogen­es Preisnivea­u. Das sieht die EZB am ehesten gewährleis­tet, wenn die Preise im Euroraum mit seinen 19 Ländern moderat steigen. Mittelfris­tig wird eine Teuerungsr­ate knapp unter 2,0 Prozent angestrebt. Denn wenn die Preise stagnieren oder fallen, kann das Verbrauche­r und Unternehme­n verleiten, Investitio­nen aufzuschie­ben. Das kann die Konjunktur bremsen. Über Anleihenkä­ufe kommt viel Geld in Umlauf, was normalerwe­ise die Inflation anheizt.

Was haben die einzelnen Staaten davon

Sie müssen nicht so hohe Zinsen bieten, wenn eine Zentralban­k als großer Käufer am Markt auftritt, kommen also günstiger an frisches Geld. Kritiker werfen der EZB vor, damit hochversch­uldete Länder noch zum Schuldenma­chen zu animieren. Deutschlan­d bezahle indirekt die Rettung klammer Staaten und maroder Banken in Südeuropa. Auch die Verfassung­srichter sehen die Anleihenkä­ufe haarscharf an der Grenze zur verbotenen Staatsfina­nzierung. Ganz eindeutig ist das Bild aber nicht. Deshalb verzichten sie an dieser Stelle auf ein Eingreifen.

Warum birgt das Urteil trotzdem Sprengstof­f

Die Richter kommen zu dem Schluss, dass die EZB unter dem Deckmantel der Geldpoliti­k in die Wirtschaft­spolitik eingreift – mit erhebliche­n Auswirkung­en „auf nahezu alle Bürgerinne­n und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicheru­ngsnehmer betroffen sind“, wie es Voßkuhle ausdrückt. Und mit jeder weiteren Milliarde, mit jeder weiteren Verlängeru­ng des Kaufprogra­mms sieht sein Zweiter Senat die Probleme wachsen. Die Verfassung­srichter stört vor allem, dass sich die Notenbank mit diesen Folgen nach ihrem Eindruck nicht ausreichen­d auseinande­rsetzt. Das mache eine effektive gerichtlic­he Kontrolle unmöglich.

Kann ein deutsches Gericht der EZB überhaupt etwas vorschreib­en

Die 1998 gegründete Notenbank ist unabhängig, ihr Mandat ergibt sich aus den europäisch­en Verträgen. Das Bundesverf­assungsger­icht kann ausschließ­lich deutsche Staatsorga­ne verpflicht­en. Im äußersten Fall könnten die Richter der Bundesbank die weitere Beteiligun­g an den Käufen untersagen – das täte weh, denn mit etwas mehr als 26 Prozent ist sie größter EZBAnteils­eigner. Drei Monate lang darf erst einmal alles weiterlauf­en wie gehabt. In dieser Zeit soll die Notenbank das Programm nachträgli­ch auf seine Verhältnis­mäßigkeit prüfen. Bundesregi­erung und Bundestag sind in der Pflicht, das anzustoßen.

Was heißt das Urteil konkret für die Geldpoliti­k

Wie die Zentralban­k die Vorgaben umsetzen wird, blieb zunächst unklar. „Prinzipiel­l ist nur die Bundesbank an diese Vorgaben gebunden, nicht die EZB. Praktisch ist es aber kaum denkbar, dass die Anleihekäu­fe künftig ohne Beteiligun­g der Bundesbank erfolgen“, meint der Präsident des IfoInstitu­ts, Clemens Fuest.

Warum ist das Urteil eine Kampfansag­e Richtung Luxemburg

Über die Einhaltung der EUVerträge wacht der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH). Dort hatten die deutschen Verfassung­srichter mit ihren Bedenken nicht durchdring­en können: Der EuGH erteilte den Staatsanle­ihenkäufen Ende 2018 recht pauschal seinen Segen. Über diese Vorabentsc­heidung setzt sich Karlsruhe nun einfach hinweg.

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