Russland vor der Putin-Dämmerung?
Fast hilflos muss Kremlchef Wladimir Putin den massiv steigenden Infektionszahlen in der Corona-Krise zuschauen. Zwar ist Russland schon seit mehr als einem Monat im Lockdown. Doch die Zahlen steigen und steigen – zuletzt gab es um die 10 000 neue Fälle täglich.
Putin, der in seiner Moskauer Vorstadtresidenz NowoOgarjowo wie in einem Bunker sitzt, agiert in der Krise nach Meinung vieler Russen auffällig defensiv. Dabei hätte er zum 20. Jahrestag seiner ersten Amtseinführung am 7. Mai lieber große Erfolge gefeiert. Unbeliebte Entscheidungen delegiert der 67-Jährige seit Wochen in langatmigen, im Fernsehen übertragenen Videokonferenzen an Gouverneure, die kaum noch echte Machtbefugnisse hatten. Der Präsident selbst gab zwar den Rahmen einer arbeitsfreien Zeit bis 11. Mai vor. Doch Ausgangssperren samt knallharter Strafandrohungen und strenger Polizeikontrollen überließ er den Regionen.
Nicht nur seine Zustimmungswerte sind im Sinkflug, wie Umfrageinstitute ermittelten. Außerdem macht sich Proteststimmung breit – bisher meist im Internet, weil Straßenaktionen verboten sind. Putin selbst werde zum „Feind“der von ihm immer wieder beschworenen Stabilität, beobachtet der Politologe Andrej Perzew von der Moskauer
Denkfabrik Carnegie Center. „Putin wird zum AntiPutin.“Der Experte attestiert ihm „Realitätsverlust“– nicht zuletzt, weil Putin unlängst meinte, dass 70 Prozent der Russen zur Mittelschicht gehörten. Perzew analysiert, dass Putin nicht mehr auf Berater höre und Fehler mache. Er nennt als Beispiele die größte Verfassungsänderung der russischen Geschichte, die Putin den Verbleib an der Macht sichern soll. In der Krise erleben die Russen ihren nationalen Anführer, wie er offiziell genannt wird, ungewöhnlich kleinlaut.
Weil der Haushalt der Rohstoff-Großmacht von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf abhängig ist, reißen die niedrigen Energiepreise ein Milliardenloch in den Etat. Manch einer sieht schon die Gefahr eines Rückfalls Russlands in die von Armut geprägten 1990er Jahre.
Dabei steht Putin wie kein anderer für Jahre des Aufschwungs – für einen starken Lenker, der das Land nach dem Chaos damals wieder zu einer auch militärisch selbstbewussten Großmacht gemacht hat. Dieses Image schwindet.