„Sicht der Fachkräfte kommt zu kurz“
Expertin warnt vor schneller Vergrößerung der Kita-Gruppen in der Corona-Zeit
Schon vor der CoronaZeit war der Personalmangel in den Kitas groß. Das sagt Dr. Bettina Lamm, Geschäftsführerin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (Nifbe).
Frau Dr. Lamm, das Land will in den nächsten drei Wochen die Betreuung in den Kitas sukzessive auf 50 Prozent erhöhen. Wie bewerten Sie den Zeitplan, den das Kultusministerium nun vorgestellt hat? Lamm: Ich halte die Pläne des Landes, die sich an denen für die Schule orientieren, für sehr ambitioniert. Kitas aus Niedersachsen, die mit der „erweiterten Notbetreuung“schon 20 Prozent der Kinder betreuen, weisen darauf hin, dass sie bereits personell am Limit sind. Das hat natürlich viel mit den Hygiene- und Abstandsregelungen unter den Corona-Bedingungen zu tun. Schwer vorstellbar, wie das mit doppelt so vielen Kindern funktionieren soll.
Woran liegt das? Fallen aktuell viele Erzieher aus gesundheitlichen Gründen aus? Lamm: Schon vor der CoronaZeit war das Kita-System massiv von Personalmangel betroffen. Etwa 30 bis 40 Prozent der Mitarbeiter fallen aus Altersgründen in die Risikogruppe für schwere Krankheitsverläufe. Dazu kommen noch jene Fachkräfte, die aufgrund von Vorerkrankungen zu der sogenannten Risikogruppe gehören. Zur Erläuterung: Ob die Fachkräfte wirklich nicht eingesetzt werden bzw. wie sie geschützt werden, obliegt dem jeweiligen Träger.
Die Gruppengröße soll auf bis zu zehn Kinder steigen. Wie soll die Auswahl stattfinden? Lamm: Die Auswahl ist schon heute ein sehr großes Problem. Die Kriterien der Notbetreuung sind so weitreichend, dass die Plätze häufig nicht ausreichen und individuell vor Ort entschieden wird, wer betreut wird. Nach den Vorstellungen der Familienminister aus Bund und Ländern dürfen bevorzugt Kinder, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, die bei Eltern mit psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen leben, die eine Sprachförderung erhalten oder die im Vorschulalter sind, zurück in die Kita kommen. In jedem Fall steigt das Risiko einer Infektion.
Sind Corona-Infektionen aus den Kitas während der Notbetreuung bekannt? Lamm: Nein, davon haben wir noch nichts gehört. Virologen weisen zwar darauf hin, dass Kinder sich möglicherweise seltener anstecken und häufiger symptomfreie Krankheitsverläufe haben. Dennoch seien sie im Fall einer Infektion genauso infektiös. Wie groß
die Gefahr also wirklich ist, gilt als offen. Und es gibt bekanntlich noch keinen Impfstoff.
In der Kita gibt es keine Maskenpflicht. Was schlagen Sie vor, damit die Hygieneregeln eingehalten werden? Lamm: In der Kita ist es nicht leicht, das Abstandsgebot einzuhalten. Nach den Empfehlungen des Landes sollten die Kinder gestaffelt gebracht werden, zum Teil auch über den Garten der Kita. Die Erwachsenen sollten in den Bring- und Holsituationen Masken tragen. Zwischen Erzieherinnen und Kindern kann man die körperliche Nähe wohl kaum verhindern.
Halten Sie es für richtig, dass Tagesmütter und -väter wieder ab Montag in den regulären Betrieb übergehen dürfen? Lamm: Das ist schwer zu sagen. Die Gruppen sind dort zwar kleiner, aber beim Personenkreis der Tagesmütter und -väter gibt es weniger Unterstützungssysteme
als für die Kitas. Dort gibt es Träger, die Informationen und Orientierung liefern und auch mit einer Fachberatung unterstützen. Tagesmütter und -väter müssen alles selbst regeln.
Welchen Weg würden Sie vorschlagen, damit mehr Kinder wieder zur Kita gehen können? Lamm: Das ist eine schwierige Frage. Es hat niemand eine Patentlösung in der Schublade. Natürlich ist es für die Entwicklung der Kinder sehr wichtig, Kontakt zu Gleichaltrigen zu bekommen. Bei dem Konzept, das jetzt vorliegt, hat man aber die Perspektive der Fachkräfte zu wenig berücksichtigt. Ich halte es für gefährlich, die Gruppen so schnell zu vergrößern. Ich kann mir derzeit auch nicht vorstellen, dass wir schon im August wieder zu einem Regelbetrieb zurückkehren. Das Virus richtet sich nicht nach dem Beginn eines Kita- oder Schuljahres.