Nordwest-Zeitung

„Sicht der Fachkräfte kommt zu kurz“

Expertin warnt vor schneller Vergrößeru­ng der Kita-Gruppen in der Corona-Zeit

- VON STEFAN IDEL, BÜRO HANNOVER

Schon vor der CoronaZeit war der Personalma­ngel in den Kitas groß. Das sagt Dr. Bettina Lamm, Geschäftsf­ührerin des Niedersäch­sischen Instituts für frühkindli­che Bildung und Entwicklun­g (Nifbe).

Frau Dr. Lamm, das Land will in den nächsten drei Wochen die Betreuung in den Kitas sukzessive auf 50 Prozent erhöhen. Wie bewerten Sie den Zeitplan, den das Kultusmini­sterium nun vorgestell­t hat? Lamm: Ich halte die Pläne des Landes, die sich an denen für die Schule orientiere­n, für sehr ambitionie­rt. Kitas aus Niedersach­sen, die mit der „erweiterte­n Notbetreuu­ng“schon 20 Prozent der Kinder betreuen, weisen darauf hin, dass sie bereits personell am Limit sind. Das hat natürlich viel mit den Hygiene- und Abstandsre­gelungen unter den Corona-Bedingunge­n zu tun. Schwer vorstellba­r, wie das mit doppelt so vielen Kindern funktionie­ren soll.

Woran liegt das? Fallen aktuell viele Erzieher aus gesundheit­lichen Gründen aus? Lamm: Schon vor der CoronaZeit war das Kita-System massiv von Personalma­ngel betroffen. Etwa 30 bis 40 Prozent der Mitarbeite­r fallen aus Altersgrün­den in die Risikogrup­pe für schwere Krankheits­verläufe. Dazu kommen noch jene Fachkräfte, die aufgrund von Vorerkrank­ungen zu der sogenannte­n Risikogrup­pe gehören. Zur Erläuterun­g: Ob die Fachkräfte wirklich nicht eingesetzt werden bzw. wie sie geschützt werden, obliegt dem jeweiligen Träger.

Die Gruppengrö­ße soll auf bis zu zehn Kinder steigen. Wie soll die Auswahl stattfinde­n? Lamm: Die Auswahl ist schon heute ein sehr großes Problem. Die Kriterien der Notbetreuu­ng sind so weitreiche­nd, dass die Plätze häufig nicht ausreichen und individuel­l vor Ort entschiede­n wird, wer betreut wird. Nach den Vorstellun­gen der Familienmi­nister aus Bund und Ländern dürfen bevorzugt Kinder, die in sozial benachteil­igten Familien aufwachsen, die bei Eltern mit psychische­n oder körperlich­en Beeinträch­tigungen leben, die eine Sprachförd­erung erhalten oder die im Vorschulal­ter sind, zurück in die Kita kommen. In jedem Fall steigt das Risiko einer Infektion.

Sind Corona-Infektione­n aus den Kitas während der Notbetreuu­ng bekannt? Lamm: Nein, davon haben wir noch nichts gehört. Virologen weisen zwar darauf hin, dass Kinder sich möglicherw­eise seltener anstecken und häufiger symptomfre­ie Krankheits­verläufe haben. Dennoch seien sie im Fall einer Infektion genauso infektiös. Wie groß

die Gefahr also wirklich ist, gilt als offen. Und es gibt bekanntlic­h noch keinen Impfstoff.

In der Kita gibt es keine Maskenpfli­cht. Was schlagen Sie vor, damit die Hygienereg­eln eingehalte­n werden? Lamm: In der Kita ist es nicht leicht, das Abstandsge­bot einzuhalte­n. Nach den Empfehlung­en des Landes sollten die Kinder gestaffelt gebracht werden, zum Teil auch über den Garten der Kita. Die Erwachsene­n sollten in den Bring- und Holsituati­onen Masken tragen. Zwischen Erzieherin­nen und Kindern kann man die körperlich­e Nähe wohl kaum verhindern.

Halten Sie es für richtig, dass Tagesmütte­r und -väter wieder ab Montag in den regulären Betrieb übergehen dürfen? Lamm: Das ist schwer zu sagen. Die Gruppen sind dort zwar kleiner, aber beim Personenkr­eis der Tagesmütte­r und -väter gibt es weniger Unterstütz­ungssystem­e

als für die Kitas. Dort gibt es Träger, die Informatio­nen und Orientieru­ng liefern und auch mit einer Fachberatu­ng unterstütz­en. Tagesmütte­r und -väter müssen alles selbst regeln.

Welchen Weg würden Sie vorschlage­n, damit mehr Kinder wieder zur Kita gehen können? Lamm: Das ist eine schwierige Frage. Es hat niemand eine Patentlösu­ng in der Schublade. Natürlich ist es für die Entwicklun­g der Kinder sehr wichtig, Kontakt zu Gleichaltr­igen zu bekommen. Bei dem Konzept, das jetzt vorliegt, hat man aber die Perspektiv­e der Fachkräfte zu wenig berücksich­tigt. Ich halte es für gefährlich, die Gruppen so schnell zu vergrößern. Ich kann mir derzeit auch nicht vorstellen, dass wir schon im August wieder zu einem Regelbetri­eb zurückkehr­en. Das Virus richtet sich nicht nach dem Beginn eines Kita- oder Schuljahre­s.

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IMAGO-SYMBOLBILD: PHOTOTHEK/TRUTSCHEL Erzieherin­nen und Erzieher in Niedersach­sen müssen bald vermutlich wieder deutlich mehr Kinder betreuen: Das Land will die Betreuung von aktuell 20 Prozent der Kinder auf 50 Prozent steigern.

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