So viel Mathematik steckt im Virus
Modellierer Prof. Dr. Thilo Gross über Netzwerke, Superübertragung und Infektionsketten
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird immer wieder über exponentielles Wachstum oder die Reproduktionszahl gesprochen – vielen erscheinen die Rechnungen dahinter kompliziert. Ein Experte klärt auf.
Exponentielles Wachstum, Ausbreitungsszenarien, Verdopplungszeiten: Wie viel Mathematik steckt in der CoronaPandemie und warum? Gross: Eine ganze Menge. Wenn wir von komplexen Systemen reden, denkt man schnell, dass es sehr schwierig und kompliziert wird. Aber in jedem komplexen System gibt es einfache Regeln und Wahrheiten. Oft lassen diese sich schon mit sehr einfacher Mathematik verstehen.
Also auch mit Addition und Multiplikation?
Gross: Ja, selbst mit den Grundrechenarten lässt sich viel erschließen. Wenn man ein System erklären will, geht vieles über Modellierung. Das ist auch der Punkt, an dem Netzwerke hinzugefügt werden. Netzwerke sind heute überall, das merkt man schon im Sprachgebrauch. Wir reden ständig über Netzwerke: Soziale Netzwerke, Terrornetzwerke, Liefernetzwerke, Internet, und so weiter. Das liegt daran, dass unsere Welt immer komplexer wird. Wir reden über Netzwerke, weil es so leichter wird, mit der Komplexität der Welt umzugehen. Die Netzwerktheorie ist eine Art Denkwerkzeug, um komplexe Phänomene zu verstehen.
Wie passt diese Theorie nun zu der aktuellen Pandemie? Gross: Um die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu verstehen, hilft es, sich die Bevölkerung als Netzwerk vorzustellen. In diesem Netzwerk repräsentiert jeder Knoten einen Menschen. Die Verbindungen zwischen diesen Knoten bedeuten persönliche Kontakte, über die sich die Krankheit ausbreiten kann. Das Netzwerk, das dabei herauskommt, ist natürlich kein schön geordnetes Fischernetz, sondern eher ein wildes Gespinst. Trotzdem hilft uns dieses Bild, über die Pandemie nachzudenken. Auf dieser Grundlage können wir anfangen, mathematisch zu berechnen, wie viele dieser Verbindungen wir trennen müssen, um die Ausbreitung zu stoppen.
Im Zusammenhang damit wird auch immer wieder von der Superübertragung gesprochen. Was hat es damit auf sich?
Gross: An diesem Phänomen kann man sehr schön sehen, wie das Denken in Netzwerken uns helfen kann, Phänomene, die ansonsten nicht intuitiv sind, intuitiv verständlich zu machen. Wenn wir uns beispielsweise persönlich treffen würden, käme eine Verbindung
zustande. Für das Virus bedeutet das zwei Chancen, um sich auszubreiten. Wenn wir beide eine kleine Chance haben, infiziert zu sein, könnte ich Sie möglicherweise anstecken oder Sie mich.
Vielleicht würden Sie auch noch einen Kollegen mitbringen. Naiv würde man denken, es ändert nicht viel, ob wir uns zu zweit oder zu dritt treffen – die Gruppe wird dadurch ja sozusagen nur 50 Prozent größer. Denken wir nun aber genauer über das Netzwerk nach, das wir bilden. Jetzt sind wir schon drei Knoten, die sich alle miteinander verbinden. Das heißt, jeder von uns dreien hat die Chance, zwei weitere Menschen anzustecken. Es ergeben sich sechs Chancen zur Ausbreitung. Eine 50-prozentige Vergrößerung der Teilnehmer an unserem Treffen führt also zu einer Verdreifachung des Ausbreitungspotenzials.
Damit hätte man wohl in der Tat nicht gerechnet. Wie sieht das bei Gruppen aus? Gross: Zumindest für überschaubare Gruppen ist es ähnlich. Mit steigender Gruppengröße wächst die Zahl der Verbreitungschancen zunächst mal quadratisch an. Wenn wir zum Beispiel eine Grillparty mit 20 Gästen veranstalten, trifft jeder Teilnehmer 19 andere Menschen. Es ergeben sich also 20 mal 19 gleich 380 Verbreitungschancen für das Virus – oder anders gesagt 190 paarweise Verbindungen im Netzwerk zwischen den Teilnehmern.
Man kann also Ereignisse der Superübertragung erklären. Gibt es noch andere? Gross: Neben den Superübertragungsereignissen bei größeren Veranstaltungen können auch einzelne Personen Superüberträger werden, nämlich dann, wenn sie sehr viele Kontakte haben. Die Mathematik gestaltet sich hier sehr ähnlich. Wer mehr Kontakte hat, hat zunächst einmal eine höhere Chance sich zu infizieren, und nach der Infektion auch eine höhere Chance, die Krankheit an viele Menschen weiterzugeben. Solange die Infektion noch relativ selten ist, ergibt sich wiederum ein quadratischer Anstieg.
Es ist aber nicht alles ganz so schlimm, wie es sich anhört. Denn gerade die Superübertragung bietet uns auch eine Gelegenheit, mit vergleichsweise geringem Aufwand der Epidemie viele Übertragungswege zu nehmen. Wer seine Grillparty mit 20 Gästen absagt, kann dem Virus auf einen Schlag 380 Übertragungschancen nehmen.
Wie sieht es mit Infektionsketten aus – kann die Mathematik auch hier helfen?
Gross: Ja, natü rlich. Nehmen wir als Beispiel die Reproduktionszahl, also die Zahl der Neuinfektionen, die eine typische infizierte Person auslöst. Solange eine infizierte Person im Mittel mehr als eine weitere Person ansteckt, gibt es immer mehr Fälle. Wenn, wie aktuell in Deutschland, eine infizierte Person im Mittel weniger als eine Person ansteckt, gehen die Neuinfektionen zurück, bis das Virus verschwindet. Vor den Gegenmaßnahmen lag die Reproduktionszahl etwa bei drei. Also musste eine Reduktion auf ein Drittel erreicht werden. In unserem Netzwerk heißt das, wir müssen dem Virus zwei Drittel der Verbindungen nehmen, über die es sich ausbreiten kann. Auf natürlichem Wege würde
das passieren, wenn zwei Drittel der Bevölkerung die Krankheit bereits hätten. Dann würden zwei Drittel der Verbindungen zu Menschen führen, die immun sind.
Das würde für Deutschland bedeuten, dass es etwa 50 Millionen Infizierte gebe – viel zu viele. Diese Zahl kann reduziert werden, indem wir dem Virus zuvorkommen und selbst Verbindungen aus unserem Kontaktnetzwerk entfernen, also „Social Distancing“betreiben. Hier gilt wiederum: Könnten wir alle die Zahl unserer Kontakte auf ein Drittel reduzieren, so würde es reichen, um die Ausbreitung zu stoppen.
Das geht prinzipiell auch anders: Wenn es gelingt, durch mehr Tests und Kontaktverfolgung Infizierte schneller zu identifizieren, kann das allein reichen. Wiederum gilt: Um das Ziel zu erreichen, muss eine Reduktion um den Faktor drei erreicht werden. Die Mathematik ist da tatsächlich erst einmal so einfach. Allerdings ist die Kapazität für Tests und Kontaktverfolgung begrenzt. Deswegen werden diese Maßnahmen ineffizienter, je mehr Fälle es gibt. Auch das ist Mathematik. Beim „Social Distancing“indes können wir alle helfen und damit erst mal die Zahl der Neuinfektionen reduzieren.
Wer seine Grillparty mit 20 Gästen absagt, kann dem Virus auf einen Schlag 380 Übertragungschancen nehmen.
Prof. Dr. Thilo Gross Modellierer
Kann man mithilfe der Mathematik auch den so oft gesuchten „Patienten Null“finden? Gross: Allein mit Mathematik geht das auf jeden Fall nicht – ganz ohne Mathematik aber auch nicht. Auf der großen Skala lassen sich große komplexe Systeme häufig gut vorhersagen. Wenn wir die Pandemie als Ganzes betrachten, dann spielen Zufälle und Details der individuellen Übertragung keine Rolle mehr, deshalb wird der Verlauf vorhersagbar.
Wenn Sie nach dem „Patienten Null“fragen, dann ist das ja gerade die Frage nach so einem Detail. Um diese Frage zu beantworten, braucht man zunächst genaue Daten. Bei der Auswertung dieser Daten spielt dann die Mathematik aber wiederum eine große Rolle – und zwar sowohl bei dem Verständnis des Infektionsnetzes als auch bei der Analyse der Genetik, die dabei hilft, zu entschlüsseln, wer genau wen angesteckt hat.
Wo sind die Grenzen der Mathematik erreicht? Gross: In komplexen Systemen kann man viele Zusammenhänge mit sehr einfacher Mathematik verstehen, aber eben nicht alle – einiges bleibt schwierig. Bei der Corona-Pandemie ist es einfach zu verstehen, was passiert, wenn wir wieder so handeln wie zu Beginn. Dann bekommen wir erneut ein exponentielles Wachstum und letztendlich die 50 Millionen Fälle in Deutschland. Einfach ist auch zu verstehen, was passiert, wenn wir die Kontaktsperre in ihrer bisherigen scharfen Form aufrechterhalten. Dann gibt es einen weiteren Rückgang bis auf wenige Neuinfektionen. Was aber wirklich passiert, hängt von der Entscheidung von Politikern ab, und damit von dem Verhalten eines kleinen Personenkreises, das sich – zum Glück – nicht vorhersagen lässt.
Die Meinungsentwicklung in der breiten Bevölkerung lässt sich schon eher vorhersagen. Denn Meinungsbildungsprozesse werden im Grunde von der gleichen Mathematik beschrieben wie die Verbreitung des Virus.