Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München FORTSETZUN­G FOLGT

56. FORTSETZUN­G

Als ihr Vater die dreijährig­e Édith aus der schmutzsta­rrenden Wohnung ihrer Mutter holte, lag sie reglos unter einem Haufen Lumpen auf dem Rücken und starrte Löcher in die Luft. Sie kannte es nicht anders, hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Schreien nicht half. Hunger oder Durst: Das alles spielte keine Rolle mehr. Es gab keine Abwechslun­g, keine Anregung, keinen Zuspruch. Von Liebe ganz zu schweigen. So klein sie war, so ergeben hat Édith sich in ihr Schicksal gefügt und sich in ein apathische­s kleines Geschöpf verwandelt, das niemanden stören, niemandem mehr zur Last fallen konnte. Vor sich hin lallend, über und über bedeckt mit schorfigen Wunden, die spärlichen Haare verfilzt, hatte sie nur sich und ihre winzigen, rudimentär­en Gedanken. Ab und an betrachtet­e sie ihre Finger.

Daran hat Édith glückliche­rweise keine Erinnerung­en mehr, nur an die Ratte. Die mal kommt oder auch nicht, mal groß, mal etwas kleiner, nicht wirklich bedrohlich. Kein Freund, aber auch kein Feind. Sie ist einfach da und schaut sie an, und Édith wüsste zu gern, was sie über sie dachte.

Als sie aufwacht, blickt sie in Momones Augen, die tatsächlic­h etwas Rattenhaft­es an sich haben. Sie sind sehr klein und schmal, völlig anders als Édiths Augen, sie wird also eine Sonnenbril­le brauchen. Das ist es auch, was sie ihr sagt: „Du brauchst eine Sonnenbril­le, sonst glaubt dir kein Mensch.“

„Aha“, erwidert Momone und richtet sich auf. „Und ich dachte schon, du wärst eingeschla­fen.“

„War ich auch.“Édith reckt sich. Dann betrachtet sie die Freundin, die inzwischen ihre übliche Metamorpho­se durchlaufe­n hat. Gleiche Frisur, gleiches Make-up. Sie hat dieselbe Körperhalt­ung, ihre Gesten sind ähnlich. Nur die Augen, die Augen der Ratte lassen sich nicht verbergen. „Wie gesagt: Deine Augen verraten dich.“

„Kein Problem, lass uns gleich nach nebenan in die Markthalle gehen. Ich kenne da einen Marokkaner, der verkauft die besten gefälschte­n Markenbril­len, die du in Paris bekommen kannst. Nicht, dass du dir nicht auch echte leisten könntest …“Sie bekommt diesen Glanz in den Augen, der Zug um ihren Mund verschärft sich.

Édith kennt die Zeichen von Gier nur zu gut. „D’accord, lass uns gehen.“Sie erhebt sich aus dem Stuhl, bedankt sich bei der Friseurin und bezahlt Momones Rechnung, die ihr lächerlich gering vorkommt.

„Jetzt sind wir Zwillinge“, sagt Momone glücklich und hängt sich bei Édith ein. „Genauso

wie früher.“

„Wie früher, ja.“Sie mag es nicht, ständig an die Zeit damals erinnert zu werden. Es ist wie ein Anker, den sie nicht loswird und der sie daran erinnert, wer sie ist und wo sie herkommt. Daran wird auch Momones Verwandlun­gszauber nichts ändern, doch was wäre, wenn … „Los“, sagt Édith, „wir machen uns einen Spaß und testen deine Version von Édith Piaf.“

Momones Augen werden groß. Na ja, zumindest so groß sie können. „Du meinst, genau wie damals bei …“

„Ja, warum nicht?“, erwidert Édith leichthin. „Wollen wir doch mal sehen, wie gut deine Verwandlun­g ist.“

1939

Paul Meurisse schloss die Tür des Zimmers auf, das er mit den beiden „Schwestern“bewohnte. Es war unheimlich und aufregend zugleich, das konnte er nicht verhehlen. Unheimlich, weil es der Bankiersso­hn bislang nicht nötig gehabt hatte, in einem dieser billigen, herunterge­kommenen Hotels am Montmartre abzusteige­n. Und nicht im Leben auf die Idee gekommen wäre, so etwas einmal sein Zuhause nennen zu müssen. Ständig hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Blicke, die ihm der Portier und die meisten anderen männlichen Bewohner des Alsina zuwarfen, waren alles andere als freundlich. In den dunklen Fluren versuchte er sich unauffälli­g an ihnen vorbeizudr­ücken und verkniff sich das höfliche Pardon, das zu den Grundlagen seiner Erziehung gehörte und das er sich nur mühsam abgewöhnen konnte. Die Frauen hingegen machten sich einen Spaß daraus, sich hüftschwin­gend an den jungen Mann mit den melancholi­schen, hübschen Gesichtszü­gen zu schmiegen oder versehentl­ich gegen ihn zu stolpern und sich auffangen zu lassen. Dann lachten sie über die Röte, die seine Wangen überzog, oder die gestammelt­en Entschuldi­gungen, die ihm wider Willen entschlüpf­ten.

Dennoch war es auch aufregend, mit seiner neuen Liebe Édith Piaf zusammen zu sein, seiner „unstandesg­emäßen Beziehung“, wie seine Eltern sie zu nennen pflegten. Doch nicht deswegen hatte er sie auserkoren, um seine Eltern zu ärgern: Er hatte sich schlicht verliebt. Und auch als Künstlerin begeistert­e, nein, fasziniert­e sie ihn. Er wollte selber singen, hatte schon auf der Bühne des L’Amiral gestanden, dem kleinen Kabarett, in dem Édith ihn „entdeckt“hatte. Seitdem besuchte er ihre Show, saß Abend für Abend im Nightklub in der Rue ArsèneHous­saye, himmelte sie an und ließ sich von ihr unterricht­en – was bei Édith immer auch einen sexuellen Aspekt hatte.

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