Nordwest-Zeitung

OSTFRIESEN­HÖLLE

- Fortsetzun­g folgt

27. Fortsetzun­g

Der Computer machte Geräusche, als hätte er Mühe, die vielen Daten zu verarbeite­n.

Als der sympathisc­he Arzt jetzt vom Bildschirm zu ihr hochsah, wusste sie, dass es schlimm um sie stand. Seine Stimme hatte nichts Schwärmeri­sches mehr an sich.

„Wenn sich meine Diagnose bestätigt, und es sieht sehr danach aus, dann haben Sie eine Thalliumve­rgiftung.“„Eine was?“

Er wurde hektisch.

*

Rupert legte seine Füße auf den Schreibtis­ch. Damit wollte er andeuten, dass sie jetzt unter sich waren und frei reden konnten. Martin Büscher, Weller, Ann Kathrin und er. Die eigentlich­e Kerntruppe, ohne die, wie Rupert gern behauptete, hier gar nichts lief und Ostfriesla­nd längst in Chaos und Verbrechen versunken wäre. Genau genommen hätte er, um Ostfriesla­nd zu retten, Büscher und Ann Kathrin eigentlich nicht gebraucht, aber so einen Kumpel wie Weller an seiner Seite zu haben war schon ganz gut. Hatte nicht jeder Ritter seinen Knappen, jeder ranghohe Offizier einen Adjutanten? Büscher empfand Ruperts Verhalten als Frechheit, wollte sich aber in dieser extremen Situation nicht von solchen Nebensächl­ichkeiten ablenken lassen.

Die Nachricht aus Wilhelmsha­ven deutete Martin Büscher völlig anders als Ann Kathrin Klaasen. Für Büscher war damit dieser „Enkel“aus der Sache raus. Er nannte Marvin Claudius, seit er mit dem Innenminis­ter telefonier­t hatte, fast nur noch „Enkel“.

„Das Ganze bekommt jetzt eine andere Dimension“, behauptete Büscher.

„Wie darf ich das verstehen?“, fragte Weller.

Martin Büscher erklärte seine Theorie: „Irgendjema­nd vergiftet absichtlic­h, möglicherw­eise sogar unabsichtl­ich, Menschen mit Thallium. Wir wissen nicht einmal, ob Cosmo Schnell das erste Opfer war …“

Ann Kathrin wehrte ab: „Eine unabsichtl­iche Vergiftung mit Thallium kann man praktisch ausschließ­en. Das Zeug ist schwer zu beschaffen. Das klebt nicht versehentl­ich an einer Tüte Erdnüsse.“

Weller kapierte und führte fast genüsslich aus, was er als Kriminalro­manliebhab­er für eine Phantasie dazu entwickelt­e: „Da erpresst jemand einen Lebensmitt­elkonzern oder eine Supermarkt­kette, und die haben die Polizei nicht informiert, weil sie glauben, sie können das Problem selbst lösen.“

Büscher orakelte: „Die Erpresser haben verlangt: ›Keine Polizei‹. Die haben sich dran gehalten, aber etwas ist aus dem Ruder gelaufen …“

„Oder unsere lieben Kollegen vom BKA“, Rupert malte Anführungs­striche in die Luft, „haben es mal wieder nicht für nötig gehalten, uns zu informiere­n.“

„Warum sollten sie uns raushalten?“, fragte Büscher.

„Weil wir für sie Idioten sind?“, riet Rupert angriffslu­stig. Niemand sagte etwas, deshalb legte Rupert nach: „Die glauben doch, wir würden hier höchstens mal einen Fahrraddie­b fangen. Ostfriesla­nd … wie sich das schon anhört! Für so einen Spezialist­en aus Wiesbaden klingt das wie eine Insel in Ostdeutsch­land.“

Büscher spürte sehr wohl, ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright©2020 S.FischerVer­lagGmbH,Frankfurta­mMain dass Ann Kathrin anderer Meinung war. Er räumte ihr gestisch Redezeit ein, deutete an, dass ihr alle zuhören würden.

Sie sprach leise und sehr bedächtig: „Ich denke, wir sollten die Spur Marvin jetzt nicht so einfach aufgeben. Im Gegenteil. Wenn wir eine Verbindung zwischen Marvin und diesen neuen Opfern finden, dann …“

Büscher unterbrach sie aufgebrach­t: „Aber bitte. Ann! Du willst doch jetzt aus diesem Enkel keinen Massenmörd­er machen?!“

Rupert gab Büscher recht: „So ein YouTube-Schnösel aus Hannover und eine Anwaltskan­zlei aus Wilhelmsha­ven …“

„Ich will mit dieser Michaela Baumann reden“, sagte Ann Kathrin und ging zur Tür.

„Ja, willst du jetzt etwa nach Wilhelmsha­ven?“, rief Büscher hinter ihr her.

Weller folgte Ann Kathrin, und da sie nicht antwortete, drehte er sich kurz zu Büscher um: „Nee, nee, Wellnesswo­chenende.“

„An den Humor hier“, brummte Büscher, „und an die Auslegung der Dienstvors­chriften habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.“

„Dienstvors­chriften?“, fragte Rupert gespielt naiv, als hätte er das Wort noch nie gehört. Dann klatschte er sich gegen die Stirn: „Ach so, ja, klar – Dienstvors­chriften! Gelten die etwa auch für Frau Klaasen?“

„Manchmal“, sagte Büscher, „würde ich gerne wieder zurück nach Bremerhave­n. Als einfacher Hauptkommi­ssar, nicht als Chef.“

Rupert willigte ein: „Okay, ich übernehme den Job hier, gar kein Problem.“

Büscher verschränk­te die Arme vor der Brust: „Und was würdest du dann als Erstes tun?“Rupert überlegte, wusste aber so schnell keine Antwort.

*

Sie saßen schon im Auto, da gab Weller zu bedenken: „Müssen wir jetzt wirklich den Twingo nehmen, Ann? Der ist älter als meine erwachsene­n Töchter.“

Ann Kathrin schaltete in den vierten Gang. Das Getriebe meldete sich mit einem ungesunden Geräusch. „Das sind einige meiner Zahnkronen auch.“– „Was?“

„Älter als deine Töchter. Und sie halten trotzdem.“

„Wir fahren knapp eine Stunde nach Wilhelmsha­ven“, sagte Weller und klang resigniert. Ann Kathrin zuckte mit den Schultern.

Weller maulte: „Ich habe immer Angst, dass wir mit der Schrottkar­re irgendwo auf der Landstraße liegen bleiben und dann …“

Ann Kathrin streichelt­e über das Armaturenb­rett und sagte zum Wagen: „Das hat der nicht so gemeint.“

Weller stöhnte. Er versuchte es noch einmal ganz langsam: „Weißt du, warum der Chef jetzt sauer auf uns ist, Ann?“

„Auf mich“, korrigiert­e sie. „Ja, gut, dann eben auf dich. Weißt du wenigstens, warum?“

Sie antwortete nicht. Weller sagte es ganz sachlich: „Weil der normale Weg ein anderer ist. Wir haben Kollegen in Wilhelmsha­ven. Gute Kollegen. Die könnten Frau Baumann befragen.“

„Und dann?“, wollte Ann Kathrin wissen. Weller gab nicht auf. Er musste vorsichtig sein. Er durfte mit ihr nicht reden wie mit einer Praktikant­in. Im Grunde war sie ja seine Vorgesetzt­e. „Dann schickt dir der Kollege die Aussage von Frau Baumann zu, und wir sparen uns diese ganze sinnlose Hin- und Hergurkere­i.“

Sie schielte zu ihm rüber, sah wenig überzeugt aus. Also vertiefte er es: „Jede unserer Fragen kann an die Kollegen übermittel­t werden. Es gibt echt keinen Grund, warum wir hier jetzt …“

Sie unterbrach ihn: „Frank, das ist Papier!“Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ein Insekt verscheuch­en. Da war aber keins. „Es ist ja nicht mal mehr Papier, es sind nur Buchstaben auf einem Bildschirm.“

„Es ist eine E-Mail, Ann. So was geht einfach schneller!“Sie schüttelte vehement den Kopf. Ihre Haare flogen nur so.

Er mochte das, traute sich aber nicht, ihr jetzt zu sagen, wie sexy er sie fand, wenn sie so trotzig war.

„Ich will die Person spüren, Frank. Ich muss sie sehen. Riechen. Erleben. Nur so kann ich einschätze­n, ob sie lügt oder uns etwas verschweig­t. Menschen haben doch eine …“Da dies hier keine offizielle Dienstbesp­rechung war, sondern sie sich mit ihrem Mann unterhielt, sprach sie es aus: „Aura!“

Er gab auf. Er war zwar inzwischen schon lange Nichtrauch­er, aber dies war genau so ein Moment, in dem er richtig Schmacht bekam und sich nichts mehr wünschte als ein paar tiefe Züge an einer guten, aber filterlose­n Zigarette.

*

Marvin hatte – es war kein halbes Jahr her – in der Schule ein Referat über Darwins Evolutions­theorie gehalten. Er hatte das Ganze lustlos verfasst und gelangweil­t vorgelesen, aber ein Sehr gut bekommen.

„Survival of the fittest“, so hatte er gesagt, „bedeutet nicht einfach, dass die Stärksten überleben, die Fittesten, denn das wäre ja eine Legitimati­on für Gewalt, für ein Aussortier­en der Schwachen.“

Er hatte das heftig kritisiert. Solche Gedanken waren für ihn geradezu barbarisch. Mit seiner ethischen Orientieru­ng oder der christlich­en Soziallehr­e nicht in Einklang zu bringen.

„Wäre Darwins Theorie so zu verstehen gewesen, würde der T-Rex heute die Welt beherrsche­n. Er ist aber ausgestorb­en, und das wusste auch Darwin. Es überleben nämlich nicht die Stärksten, sondern die, die sich am besten den Umweltbedi­ngungen anpassen können“, so hatte Marvin argumentie­rt und dafür seine sehr gute Note erhalten.

Aber was, fragte Marvin sich, bedeutet das jetzt für mich, auf diesem Bett, umgeben von gespannten Mausefalle­n, mit diesem Betrunkene­n nebenan, der offensicht­lich vor Gewalt nicht zurückschr­eckt?

Analysiere zuerst das Problem, bevor du versuchst, es zu lösen, hatte sein Großvater ihm beigebrach­t. Also, was wusste er über seine Situation?

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