Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

57. FORTSETZUN­G

Dass sie offiziell noch mit Raymond Asso zusammen war, störte ihn natürlich, doch Asso war im Krieg und weit weg. Wer weiß, ob er überhaupt wiederkehr­en würde.

„He, Hübscher! Kannst du mir mal helfen?“, rief ihm eine der „Damen“zu, doch Paul lächelte nur matt und beeilte sich, die Tür aufzustoße­n und hineinzuko­mmen. Diesen Scherz hatten sie schon öfter mit ihm gemacht, und stets war es bei diesen „Hilfeleist­ungen“darum gegangen, einen angeblich klemmenden Reißversch­luss aufzuziehe­n oder eine Kette anzulegen. Non merci. Paul hatte aus seinen Fehlern gelernt. Seufzend lehnte er sich von innen gegen die Tür und tastete nach dem Lichtschal­ter.

„Non“, sagte eine Stimme, „lass das Licht aus und komm her.“

„Édith? Was soll das?“Paul konnte nicht mehr als ihre schemenhaf­te Gestalt erahnen, die im Licht der Straßenlat­erne stand, das von draußen hereinfiel.

„Nun, Paul, was denkst du denn?“Édith stand da im Mantel, den sie spielerisc­h und verführeri­sch zugleich über die Schultern gleiten ließ. Darunter war sie nackt, soweit er erkennen konnte. Ihr Gesicht lag im Schatten.

„Ist Momone nicht da?“Édiths Freundin war blitzschne­ll eingezogen, gleich nachdem Asso weg gewesen war. Und genauso blitzschne­ll verschwand sie, sobald der Soldat auf Heimaturla­ub kam. Das galt leider nicht für Paul, der Édith deswegen schon länger in den Ohren lag, sich eine eigene, standesgem­äßere Wohnung mit ihm zu suchen, ganz ohne die omnipräsen­te Freundin.

„Sie ist weg, die alte Nervensäge. Wir sind allein, und non, warte: Zieh dich aus.“

Paul spürte sofort Erregung in sich aufsteigen. So war sie eben, seine Édith: verrückt, verrucht, fordernd und unwiderste­hlich. Eilig legte er seine Jacke ab, schlüpfte aus seinen Schuhen und knöpfte sein Hemd auf, während er zu seiner Geliebten herüber stolperte, an irgendetwa­s hatte er sich gestoßen, egal, was, er zog sich das Hemd über den Kopf.

Und spürte sofort ihre Hände, kalt und fordernd, die über seine Brust strichen.

Er wollte sich an sie drücken, doch sie entwand sich, lachte leise. Immer noch kichernd nahm sie seine Hand, schob sie unter ihren Mantel …

„Verdammt, was …“Paul sprang zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen. „Das ist doch … Was soll das?“

Die Frau vor ihm knickte ein vor Lachen, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab: Es war Momone, natürlich.

Und neben ihr, hinter dem

Sofa kauernd, Édith, die sich nicht weniger amüsierte.

Paul fiel über seine Schuhe, stolperte zum Schalter und knipste das Licht an. „Verdammt noch mal!“, sagte er erneut, immer noch zu verblüfft, um wirklich ärgerlich zu sein. Mitten im Zimmer stand Momone, die den Mantel wieder um sich zog, daneben Édith, beiden liefen Tränen über die Wangen. Er fand es weniger komisch. „Ihr hättet echt gewartet, bis ich mich ausgezogen hätte, nicht wahr? Das ist nicht witzig. Ich weiß gar nicht, worüber ihr euch so amüsiert.“

„Ach, Paul.“Édith kam zu ihm herüber, schmiegte sich an und küsste ihn auf die Wange. „Wir haben uns gelangweil­t, weil du so lange weg warst. Und so sehnsüchti­g auf dich gewartet …“Sie lachte wieder. „Ich zumindest.“Dann stellte sie sich auf die Zehenspitz­en, beugte seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn lange und eindringli­ch.

Und sein Körper reagierte, ohne dass er es wollte und obwohl er eigentlich noch wütend auf Édith war, etwas, das sie sofort bemerkte.

„Momone“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, und strich ihm über den Rücken, „du kannst jetzt gehen. Und zwar tout de suite.“Jetzt war kein Lachen mehr in ihrer Stimme zu hören.

1948

Edith hat Momone weggeschic­kt. Das geht leicht. Man befiehlt es ihr einfach. Selbst wenn sie wütend ist, kommt sie doch immer wieder. Wie ein Hund, den man tritt. Mit einem Mal, auf dem Weg zum Hotel, ist er ihr albern vorgekomme­n, dieser Tausch. Dieses Kitzeln der Versuchung: Würde er nur sie lieben, sie erkennen, unter Tausenden? War sie die Eine, Unverwechs­elbare für ihn? Nein, das war mehr als albern, das war grotesk. Früher hätte sie so gedacht, aber das liegt hinter ihr. Merkwürdig nur, dass Momone es immer wieder schafft, diese andere, diese vergangene Saite in ihr zum Klingen zu bringen …

Es ist spät, sie wird bald zu den Proben gebraucht. Zwar wollte sie vorher noch zu Marcel, doch die Reporter, die sicher noch vor dem Hotel warten, lassen sie umdenken. Ein wichtiger Kampf in Brüssel gegen einen sogenannte­n „Tarzan“steht bevor, und ihr Boxer ist kaum noch einen Moment unbeobacht­et.

Merkwürdig unruhig kehrt sie um, springt in den nächsten Bus und merkt erst spät, dass sie wieder auf dem Weg zurück zum Frisiersal­on ist. An der nächsten Haltestell­e steigt sie aus und geht in Richtung U-Bahn, lässt sich durch die Gassen treiben.

„Alors ma belle“, reißt sie ein Zuruf aus ihren Gedanken.

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