Der tiefste Schnitt der Geschichte
Heinrich August Winkler über Corona und das Kriegsende 1945
Herr Professor Winkler, 75 Jahre nach Kriegsende werden Deutschland und die Welt von einer schweren Pandemie heimgesucht. Die Gedenkveranstaltungen zum 8. Mai mussten abgesagt werden. Wie erleben Sie diese schwere Krise? Winkler: Das Gefühl der Zeitenwende, eines tiefen Umbruchs, ist zu Recht weit verbreitet. Der Vergleich mit der „Stunde Null“von 1945 scheint nahezuliegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber gab es, bei aller Ungewissheit, was die Zukunft anging, das Gefühl: „Wir sind noch einmal davongekommen.“Das war der Titel eines in den ersten Nachkriegsjahren sehr häufig gespielten Theaterstücks des amerikanischen Dichters Thornton Wilder. Heute können wir leider noch nicht sagen, wir seien noch einmal davongekommen. Die Experten schließen eine zweite Welle nicht aus. Wir haben den Höhepunkt der Seuche vielleicht noch gar nicht erreicht.
Die Wirtschaft ist auf Talfahrt, Millionen Menschen fürchten um ihren Job. Experten warnen vor einer Weltwirtschaftskrise wie in den 30er Jahren. Drohen jetzt soziale Verwerfungen? Winkler: Wir erleben die schwersten ökonomischen Verwerfungen seit der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Aber wir erleben sie heute anders als damals auf einem hohen Wohlstandssockel. Die Infrastruktur, die Industrieanlagen, all das ist ja nach wie vor intakt. Der wirtschaftliche Aufschwung dürfte relativ schnell wieder erfolgen, wenn erst einmal ein Impfstoff gegen Corona zur Verfügung steht. Von einer Stunde Null kann heute deshalb wohl kaum gesprochen werden.
Drohen dennoch womöglich Weimarer Verhältnisse, Instabilität und eine Stärkung von Extremismus und Nationalismus?
Winkler: Es gehört zu den bemerkenswerten Entwicklungen der letzten Wochen, dass die Extremisten sich in Deutschland nicht über einen weiteren Zulauf freuen können, sondern laut Umfragen in der Wählergunst absinken. Die bewährten staatstragenden Parteien sind dagegen im Aufwind. Das ist kein Zeichen für eine Schwächung der Demokratie, sondern gibt uns eher Anlass, mit einem gewissen Vertrauen in die Zukunft zu sehen.
Sie fordern angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Probleme einen Lastenausgleich. Wie sollte der konkret aussehen?
Winkler: Wir können aus den Erfahrungen der Nachkriegszeit und der Wiedervereinigung lernen. Der Lastenausgleich, der Anfang der 50er Jahre beschlossen worden war, sollte den Heimatvertriebenen und Ausgebombten helfen, die alles verloren hatten, während andere nur geringe materielle Einbußen zu beklagen hatten. Diese Vermögensabgabe fiel damals in die Zeit des Wirtschaftswunders. Sie hat diejenigen, die dazu beitragen mussten, nicht wirklich belastet. Der Solidaritätszuschlag, der nach der Wiedervereinigung in den 90er Jahren eingeführt worden war, sollte für einen materiellen Ausgleich zwischen Ost und West sorgen. An beides können wir anknüpfen. Nur so können wir aus der gewaltigen Neuverschuldung herauskommen, die jetzt unvermeidlich ist. Die entscheidende Aufgabe besteht damals wie heute darin, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern.
Der 8. Mai 1945 steht für die Stunde Null und das Ende eines Irrwegs. Für viele war es zunächst einmal kein Tag der Befreiung, oder?
Winkler: Der 8. Mai 1945 bleibt die tiefste Zäsur der deutschen Geschichte. Richard von Weizsäcker hat am 8. Mai 1985 von einem Tag der Befreiung und dem Ende eines langen Irrwegs gesprochen. Er meinte damit die deutschen Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie, die tief in die Geschichte zurückreichen. Die Jahre des sogenannten Dritten Reiches waren der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte und der Herrschaft des Rechts, also die politischen Konsequenzen der Aufklärung, wie sie in den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 Ausdruck gefunden hatten. Dagegen hatten sich schon deutsche Kriegsideologen im Ersten Weltkrieg aufgelehnt, als sie den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die sogenannten deutschen Ideen von 1914, vergröbert gesagt Ordnung, Zucht und Innerlichkeit, entgegen stellten. Unter Hitler kulminierte diese Ablehnung all dessen, was nach universalen Ideen klang. Der 8. Mai 1945 war nicht nur das Ende des „Dritten Reiches“, sondern auch der Untergang des ersten deutschen Nationalstaates, den Bismarck 1871 geschaffen hatte, des Deutschen Reiches. Niemand wusste damals, ob die Deutschen jemals wieder in einem Staat zusammenleben würden.
Weizsäcker hat davor gewarnt, dass der 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen sei, an dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Sind wir heute vor solch historischen Irrwegen gefeit? Winkler: Wenn wir daran festhalten, dass es keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit geben darf, wenn wir uns weiter bemühen, in selbstkritischer Aufarbeitung unserer Geschichte die freiheitlichen Errungenschaften der Jahrzehnte nach 1945 zu verteidigen, dann ist unsere Demokratie trotz aller Anfechtungen durch Extremisten auch für die Zukunft gesichert.