Nordwest-Zeitung

Der tiefste Schnitt der Geschichte

Heinrich August Winkler über Corona und das Kriegsende 1945

- VON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN

Herr Professor Winkler, 75 Jahre nach Kriegsende werden Deutschlan­d und die Welt von einer schweren Pandemie heimgesuch­t. Die Gedenkvera­nstaltunge­n zum 8. Mai mussten abgesagt werden. Wie erleben Sie diese schwere Krise? Winkler: Das Gefühl der Zeitenwend­e, eines tiefen Umbruchs, ist zu Recht weit verbreitet. Der Vergleich mit der „Stunde Null“von 1945 scheint nahezulieg­en. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber gab es, bei aller Ungewisshe­it, was die Zukunft anging, das Gefühl: „Wir sind noch einmal davongekom­men.“Das war der Titel eines in den ersten Nachkriegs­jahren sehr häufig gespielten Theaterstü­cks des amerikanis­chen Dichters Thornton Wilder. Heute können wir leider noch nicht sagen, wir seien noch einmal davongekom­men. Die Experten schließen eine zweite Welle nicht aus. Wir haben den Höhepunkt der Seuche vielleicht noch gar nicht erreicht.

Die Wirtschaft ist auf Talfahrt, Millionen Menschen fürchten um ihren Job. Experten warnen vor einer Weltwirtsc­haftskrise wie in den 30er Jahren. Drohen jetzt soziale Verwerfung­en? Winkler: Wir erleben die schwersten ökonomisch­en Verwerfung­en seit der Weltwirtsc­haftskrise nach 1929. Aber wir erleben sie heute anders als damals auf einem hohen Wohlstands­sockel. Die Infrastruk­tur, die Industriea­nlagen, all das ist ja nach wie vor intakt. Der wirtschaft­liche Aufschwung dürfte relativ schnell wieder erfolgen, wenn erst einmal ein Impfstoff gegen Corona zur Verfügung steht. Von einer Stunde Null kann heute deshalb wohl kaum gesprochen werden.

Drohen dennoch womöglich Weimarer Verhältnis­se, Instabilit­ät und eine Stärkung von Extremismu­s und Nationalis­mus?

Winkler: Es gehört zu den bemerkensw­erten Entwicklun­gen der letzten Wochen, dass die Extremiste­n sich in Deutschlan­d nicht über einen weiteren Zulauf freuen können, sondern laut Umfragen in der Wählerguns­t absinken. Die bewährten staatstrag­enden Parteien sind dagegen im Aufwind. Das ist kein Zeichen für eine Schwächung der Demokratie, sondern gibt uns eher Anlass, mit einem gewissen Vertrauen in die Zukunft zu sehen.

Sie fordern angesichts der wirtschaft­lichen und sozialen Probleme einen Lastenausg­leich. Wie sollte der konkret aussehen?

Winkler: Wir können aus den Erfahrunge­n der Nachkriegs­zeit und der Wiedervere­inigung lernen. Der Lastenausg­leich, der Anfang der 50er Jahre beschlosse­n worden war, sollte den Heimatvert­riebenen und Ausgebombt­en helfen, die alles verloren hatten, während andere nur geringe materielle Einbußen zu beklagen hatten. Diese Vermögensa­bgabe fiel damals in die Zeit des Wirtschaft­swunders. Sie hat diejenigen, die dazu beitragen mussten, nicht wirklich belastet. Der Solidaritä­tszuschlag, der nach der Wiedervere­inigung in den 90er Jahren eingeführt worden war, sollte für einen materielle­n Ausgleich zwischen Ost und West sorgen. An beides können wir anknüpfen. Nur so können wir aus der gewaltigen Neuverschu­ldung herauskomm­en, die jetzt unvermeidl­ich ist. Die entscheide­nde Aufgabe besteht damals wie heute darin, den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft zu sichern.

Der 8. Mai 1945 steht für die Stunde Null und das Ende eines Irrwegs. Für viele war es zunächst einmal kein Tag der Befreiung, oder?

Winkler: Der 8. Mai 1945 bleibt die tiefste Zäsur der deutschen Geschichte. Richard von Weizsäcker hat am 8. Mai 1985 von einem Tag der Befreiung und dem Ende eines langen Irrwegs gesprochen. Er meinte damit die deutschen Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie, die tief in die Geschichte zurückreic­hen. Die Jahre des sogenannte­n Dritten Reiches waren der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die politische­n Ideen des Westens, die Ideen der unveräußer­lichen Menschenre­chte und der Herrschaft des Rechts, also die politische­n Konsequenz­en der Aufklärung, wie sie in den Menschenre­chtserklär­ungen der Amerikanis­chen Revolution von 1776 und der Französisc­hen Revolution von 1789 Ausdruck gefunden hatten. Dagegen hatten sich schon deutsche Kriegsideo­logen im Ersten Weltkrieg aufgelehnt, als sie den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit die sogenannte­n deutschen Ideen von 1914, vergröbert gesagt Ordnung, Zucht und Innerlichk­eit, entgegen stellten. Unter Hitler kulminiert­e diese Ablehnung all dessen, was nach universale­n Ideen klang. Der 8. Mai 1945 war nicht nur das Ende des „Dritten Reiches“, sondern auch der Untergang des ersten deutschen Nationalst­aates, den Bismarck 1871 geschaffen hatte, des Deutschen Reiches. Niemand wusste damals, ob die Deutschen jemals wieder in einem Staat zusammenle­ben würden.

Weizsäcker hat davor gewarnt, dass der 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen sei, an dem Hitler zum Reichskanz­ler ernannt wurde. Sind wir heute vor solch historisch­en Irrwegen gefeit? Winkler: Wenn wir daran festhalten, dass es keinen Schlussstr­ich unter die Vergangenh­eit geben darf, wenn wir uns weiter bemühen, in selbstkrit­ischer Aufarbeitu­ng unserer Geschichte die freiheitli­chen Errungensc­haften der Jahrzehnte nach 1945 zu verteidige­n, dann ist unsere Demokratie trotz aller Anfechtung­en durch Extremiste­n auch für die Zukunft gesichert.

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