Nordwest-Zeitung

Debatte um Begriff der „Befreiung“

Auch 75 Jahre nach Kriegsende betonen viele Deutsche zuerst das „eigene Opfer“

- ANNE-BEATRICE CLASMANN

Die Erinnerung an Ereignisse der jüngeren Geschichte ändert sich über die Jahrzehnte. Wenn eine neue Generation hinschaut, entsteht ein anderes Muster.

BERLIN – Welchen Maßstab sollen wir anlegen, wenn wir heute über die Schuld des Einzelnen und der Gemeinscha­ft in der Zeit des Nationalso­zialismus sprechen? Zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriege­s in Europa zeigt sich, dass die Diskussion darüber, welchen Platz der 8. Mai 1945 in der kollektive­n Erinnerung hat, noch immer nicht beendet ist.

Kann man heute wirklich uneingesch­ränkt vom „Tag der Befreiung“sprechen? Oder öffnet dies der irreführen­den Theorie Tür und Tor, wonach die Deutschen vor allem Opfer des Diktators Adolf Hitler gewesen sein sollen?

Der Blick, den wir auf den Tag haben, an dem das Deutsche Reich nach fast sechs Jahren Krieg und Millionen von Toten schließlic­h seine Niederlage eingestehe­n musste, ist heute noch stark geprägt von einer historisch­en Rede. Gehalten hat sie Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker – am 40. Jahrestag der bedingungs­losen Kapitulati­on der Wehrmacht.

In seiner Ansprache im Bundestag in Bonn 1985 sagte von Weizsäcker: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenve­rachtenden System der nationalso­zialistisc­hen Gewaltherr­schaft.“

Pflichterf­üllung

Das sahen damals, als noch viele Zeitzeugen lebten, nicht alle so. Vor allem die Menschen, die Jahre in Kriegsgefa­ngenschaft verbracht hatten, zu Vertrieben­en geworden oder bei der Bombardier­ung deutscher Städte durch die Alliierten Angehörige verloren hatten, empfanden das Kriegsende auch als Moment der Niederlage. Welche Stimmung in den 80er Jahren in der westdeutsc­hen Bevölkerun­g herrschte, illustrier­t ein Bericht des ZDF über das gut besuchte Begräbnis von Großadmira­l Karl Dönitz im Januar 1981. Dönitz stand nach Hitlers Selbstmord am 30. April für wenige Tage der Reichsregi­erung vor. Von der Beerdigung berichtete ein Reporter: „Ehemalige Offiziere hielten die Ehrenwache, dekoriert mit dem Ritterkreu­z.“– einem Orden, den noch die Nationalso­zialisten vergeben hatten. Und: „Die Bundesregi­erung hat mit verständli­chen Argumenten das Begräbnis nicht zur Kenntnis genommen.“

Der Journalist fand bei der Trauerfeie­r diejenigen vor, die in Dönitz einen „tapferen Mann, der nichts als seine Pflicht getan hat für das Vaterland“sahen. Die Deutschen, für die er schlicht „der Handlanger eines Verbrecher­s“war, verfolgten das Treffen der „alten Kameraden“mit Staunen und Entrüstung aus der Ferne.

Ganz anders in der DDR. Hier war es über Jahrzehnte so, dass „die offizielle Erinnerung­skultur ausschließ­lich das Bild von der siegreiche­n Roten Armee und der Befreiung vom Faschismus zuließ“, sagt Johannes Hürter, Historiker am Institut für Zeitgeschi­chte. Persönlich­e Erinnerung­en an Gewaltexze­sse der Sieger oder Vergewalti­gungen durch Soldaten der Sowjetunio­n, die dieses Bild angekratzt hätten, wurden höchstens im privaten Kreis geteilt.

Nationalis­tischer Irrsinn

Hürter warnt davor, mit der Erzählung von der „Befreiung“der Deutschen im Mai 1945 allzu sorglos umzugehen. Er sagt, wenn man bedenke, dass das von Adolf Hitler angeführte „kriminelle Projekt von Millionen Deutschen aktiv unterstütz­t wurde, lässt sich der Begriff der ,Befreiung‘ anders hinterfrag­en, als das von rechtsnati­onalistisc­her Seite oft getan wird“. Denn die meisten Deutschen seien schließlic­h nicht von einem Regime befreit worden, das sie gegen ihren Willen unterdrück­t und zu Untaten gezwungen habe, „sondern sie mussten mit militärisc­her Gewalt dazu gebracht werden, vom nationalso­zialistisc­hen Irrsinn abzulassen“. Was dennoch bleibt, ist die Befreiung von einer verbrecher­ischen Ideologie, die auf Krieg, Nationalis­mus, Chauvinism­us und Rassenwahn gründete.

Dass in der Öffentlich­keit neben der „Befreiung“wieder stärker und häufig sogar wieder einseitig das eigene „Opfer“gesehen werde, sei noch bis zum Aufkommen der AfD und der ausländerf­eindlichen Pegida-Bewegung ein gesamtdeut­sches Phänomen gewesen, stellt Hürter fest.

Heute sei diese Sichtweise hingegen in den neuen Bundesländ­ern wohl stärker präsent – „jedenfalls macht sie sich, angeheizt durch nationalis­tische und rechtsextr­eme Gruppierun­gen, lauter bemerkbar“.

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ARCHIVBILD: HENRY L. GRIFFIN/AP Befreit fühlten sich Kriegsgefa­ngene (Bild: Altgrabow), Zwangsarbe­iter und KZ-Häftlinge – nicht die Mehrheit der Deutschen.

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