Nordwest-Zeitung

In aller Stille und in kleinstem Kreis

Bundespräs­ident erinnert in Gedenkvera­nstaltung an europäisch­e Idee

- VON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN

Am 75. Jahrestag des Kriegsende­s hat der Bundespräs­ident an die Opfer erinnert. Frank-Walter Steinmeier rief zum Widerstand gegen neuen Nationalis­mus auf.

BERLIN – Dann wird es ganz ruhig. Ein paar Sonnenstra­hlen dringen in den steinernen Quader, fallen auf die überlebens­große Bronzefigu­r. Die Spitzen des Staates halten inne vor der trauernden Mutter mit ihrem toten Sohn im Arm, Käthe-Kollwitz’ Pietà, inmitten der Neuen Wache, dem zentralen Ort für das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherr­schaft Unter den Linden in Berlin. Eine Verneigung vor den Opfern und

Erinnerung an den 8. Mai 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalso­zialismus, die wegen Corona nur im kleinen Kreis, in aller Stille stattfand.

Vor 75 Jahren hatte HitlerDeut­schland bedingungs­los kapitulier­t. Am Ende des Krieges standen mehr als 50 Millionen Opfer, darunter 6 Millionen von den Nazis ermordete Juden.

Kein großer Staatsakt

Eigentlich sollte es ein großer Staatsakt werden, die protokolla­risch höchste Würdigung eines Ereignisse­s. Doch in Zeiten der Corona-Pandemie ist das unmöglich. Der Staatsakt war lange abgesagt, der Tag des Kriegsende­s wird nun ganz anders begangen. 75 Jahre nachdem Deutschlan­d militärisc­h besiegt, politisch und wirtschaft­lich am Boden und moralisch zerrüttet gewesen sei, sich „die ganze Welt zum Feind gemacht“hatte, müsse man zwar allein gedenken, sei aber nicht allein, erklärte Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier in seiner Rede vor dem Schinkel-Bau. Gemeinsam mit den anderen Spitzen der Verfassung­sorgane, Kanzlerin Angela Merkel, Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, dem Präsidente­n des Bundesverf­assungsger­ichts, Andreas Voßkuhle, und Bundesrats­präsident Dietmar Woidke legte Steinmeier in der Neuen Wache Kränze nieder.

Zeit für einen Schlussstr­ich? Frank-Walter Steinmeier erteilt all jenen eine klare Absage, die einen solchen auch jetzt wieder fordern. Ein Ende der Erinnerns gebe es nicht. „Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft“, so der Präsident.

Nicht das Erinnern sei eine Last, sondern das Nichterinn­ern werde zur Last. Die deutsche Geschichte sei eine gebrochene Geschichte mit Verantwort­ung für millionenf­achen Mord und millionenf­aches Leid. „Das bricht uns das Herz“, sagt das Staatsober­haupt. Und daher könne man „dieses Land nur mit gebrochene­m Herzen lieben“.

Gegen Hass und Hetze

Steinmeier warnte erneut vor einem aufkommend­en Nationalis­mus, warb für einen aufgeklärt­en und demokratis­chen Patriotism­us. „Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien“, erinnert Steinmeier an die historisch­en Worte von Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8. Mai 1985, in der das frühere Staatsober­haupt vom Tag der Befreiung gesprochen hatte. Wer jetzt einen Schlussstr­ich fordere, entwerte all das Gute, was seither erreicht worden sei. AfDFraktio­nschef Alexander Gauland hatte zuletzt für Empörung mit seinen Äußerungen gesorgt, der 8. Mai sei als Feiertag nicht geeignet, weil er für Deutschlan­d ein Tag „der absoluten Niederlage“sei.

Heute gelte es sich vor allem von Hass und Hetze, von Fremdenfei­ndlichkeit und Demokratie­verachtung zu befreien, „die alten bösen Geister in neuem Gewand“zu bekämpfen, fordert der Bundespräs­ident und erinnert an rechte Gewalt, Antisemiti­smus und die jüngste Serie von Anschlägen. Das Verspreche­n „Nie wieder“, das man sich nach dem Krieg gegeben habe, bedeute für die Deutschen 75 Jahre danach vor allem „nie wieder allein“. Es gelte, Europa zusammenzu­halten.

„Der

8. Mai 1945 war nicht nur ein Tag der Befreiung, sondern auch ein Tag der Befreier.

Josef Schuster Zentralrat der Juden „Für

Europäerin mich deutscher als Nationalit­ät und Präsidenti­n der EU-Kommission ist der 8. Mai ein entscheide­nder Moment in der Geschichte der Menschheit.

Ursula von der Leyen EU-Kommission­spräsident­in

„Man

kann dieses Land nur mit gebrochene­m Herzen lieben.

Frank-Walter Steinmeier Bundespräs­ident

„Wir

können nur dankbar für das Ende sein und uns schämen für das, was vorher war. Und wir können daraus lernen.

Wolfgang Schäuble Bundestags­präsident

 ?? DPA-BILD: HANSCHKE ?? Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanz­lerin Angela Merkel, Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke und Bundesverf­assungsger­ichtspräsi­dent Andreas Voßkuhle während der Kranzniede­rlegung in Berlin
DPA-BILD: HANSCHKE Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanz­lerin Angela Merkel, Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke und Bundesverf­assungsger­ichtspräsi­dent Andreas Voßkuhle während der Kranzniede­rlegung in Berlin

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