Nordwest-Zeitung

Wir müssen entschloss­en helfen

Europamini­sterin Birgit Honé über Europa, die EU und Deutschlan­d

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Es ist der 9. Mai 1950: Im französisc­hen Außenminis­terium am Quai d’Orsay in Paris tritt Außenminis­ter Robert Schuman vor die Presse und erklärt, die Montanindu­strien der einstigen Kriegsgegn­er Frankreich und Deutschlan­d sollten unter die Aufsicht einer supranatio­nalen Organisati­on gestellt werden. Was fast auf den Tag genau fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriege­s dazu gedacht war, Westdeutsc­hland politisch einzuhegen und der französisc­hen Wirtschaft einen besseren Zugang zu dessen Rohstoffen zu sichern, entwickelt­e sich zum Glücksfall für Europa.

Partnersch­aft ausbauen

Heute wird die SchumanErk­lärung, aus der die Europäisch­e Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl (EGKS) entsprang, als Geburtsstu­nde der Europäisch­en Union bezeichnet. Der 9. Mai 1950 markiert den Beginn eines Prozesses, der Europa Frieden, Wohlstand sowie Sicherheit, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit in einem nie zuvor gekannten Maß brachte.

70 Jahre nach Schumans Erklärung stellt die Corona-Pandemie die EU vor die wohl größte Herausford­erung ihrer Geschichte. Nach anfangs erhebliche­n Abstimmung­sschwierig­keiten ist es der Union in der Folge gelungen, in bemerkensw­erter Geschwindi­gkeit umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung der wirtschaft­lichen und sozialen Folgen der Pandemie zu treffen. Die gemeinsame EUweite Beschaffun­g und der Aufbau einer strategisc­hen EU-Reserve von medizinisc­her Schutzausr­üstung laufen auf Hochtouren ebenso wie die Forschungs­förderung für den

Impfstoff. Gleichwohl reichen die bisherigen Beschlüsse nicht aus. Wir stehen letztlich vor der Frage, ob wir die Werte der Partnersch­aft weiter hochhalten oder in nationalst­aatliches Denken des 19. Jahrhunder­ts zurückfall­en wollen.

2011 erinnerte Altbundesk­anzler Helmut Schmidt daran, dass die Bundesrepu­blik ihren Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Solidaritä­t und Hilfsberei­tschaft der anderen europäisch­en Nationen zu verdanken habe. Das dürfen wir nicht vergessen. Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederland­e machten den Anfang, als sie 1951 gemeinsam mit Deutschlan­d die EGKS gründeten. Wir Niedersach­sen etwa haben allen Grund, unseren niederländ­ischen Nachbarn für Jahrzehnte der Versöhnung, der Kooperatio­n und Freundscha­ft dankbar zu sein.

Deutschlan­d hat als wirtschaft­lich

starkes Land eine besondere Verantwort­ung für das Gelingen Europas. Niemandem ist geholfen, wenn der geplante Wiederaufb­auFonds innerhalb des neuen EU-Haushalts nicht wirkungsvo­ll ausgestatt­et ist. Gerade exportorie­ntierte Länder wie Deutschlan­d oder auch die Niederland­e sind auf einen funktionie­renden, nachfrages­tarken Binnenmark­t angewiesen und darauf, dass die wirtschaft­lichen Ungleichge­wichte in der EU nicht zu groß werden. Wenn wir beispielsw­eise Italien nicht entschloss­en dabei helfen, nach der dortigen Corona-Katastroph­e wieder auf die Beine zu kommen, ruinieren wir nicht nur das in uns gesetzte Vertrauen. Wir schädigen auch den Markt für unsere Produkte.

Das Wiederauff­lammen nationalst­aatlicher Egoismen, wie es zu Beginn der CoronaKris­e in einigen EU-Mitgliedst­aaten zu beobachten war, darf sich jetzt nicht fortsetzen. Ich verstehe gut, dass in die am 1. Juli beginnende deutsche EU-Ratspräsid­entschaft viel Hoffnung gesetzt wird. Deutschlan­d benötigt aber Partner bei dem Unterfange­n, die akute Krisenbekä­mpfung mit der Perspektiv­e für ein für die Zukunft gerüstetes Europa zu verbinden.

Meiner Ansicht nach muss die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft Schwerpunk­te setzen beim wirtschaft­lichen Wiederaufb­au, der Stärkung der nationalen Gesundheit­ssysteme und einer ehrlichen Debatte über mehr Kompetenze­n für die EU im Pandemiefa­ll. Außerdem bin ich dafür, gezielte Impulse für die Bekämpfung des Klimawande­ls und für die Digitalisi­erung zu setzen. Wir brauchen auch eine offene Debatte darüber, wie die neuen Herausford­erungen, die die Pandemie mit sich gebracht hat, zukünftig finanziert werden. Denn eines dürfte klar sein: Eine Rückkehr zum Status quo ante kann es nicht geben.

Deshalb plädiere ich dafür, eine EU-weite Finanztran­saktionsst­euer sowie eine steuerpoli­tische Koordinier­ung mit Mindestste­uersätzen zumindest in der Eurozone verbindlic­h einzuführe­n, um steuerlich­en Unterbietu­ngswettbew­erb zu verhindern. Eines haben wir doch jetzt schon aus der Corona-Krise gelernt: Wenn jeder nur an sich denkt, ist mitnichten an alle gedacht. Dann werden nämlich schwächere EU-Nachbarn ausgegrenz­t und an den Rand gedrängt. Und das schadet am Ende allen. Ich möchte nicht, dass sich die Europäisch­e Union weltpoliti­sch selbst marginalis­iert.

Sorge um Demokratie

Das Coronaviru­s werden wir letztlich besiegen. Da bin ich optimistis­ch. Wir dürfen dabei aber aufkeimend­en Nationalis­mus, Demokratie­verachtung und die fortschrei­tende Zerstörung von rechtsstaa­tlicher Ordnung und Medienviel­falt in einigen Mitgliedst­aaten nicht aus den Augen verlieren. Mir macht es Sorgen, was in Ungarn und Polen schon seit einigen Jahren passiert. Und bei aller gebotenen Zurückhalt­ung, die Deutschlan­d gut zu Gesicht steht, soll und darf man darüber nicht schweigen. Es ist auch nicht mehr vermittelb­ar, wenn Finanztran­sfers der EU in einzelne Mitgliedst­aaten nicht an die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Mindeststa­ndards gekoppelt werden.

Robert Schuman setzte übrigens seine pro-europäisch­e Politik fort. Nach der Unterzeich­nung der Römischen Verträge 1957 wird er ein Jahr später erster Präsident des neu gegründete­n Europäisch­en Parlaments.

Im März 1960 tritt er im Alter von 73 Jahren von diesem Amt zurück – fast zehn Jahre nach seiner Rede im Quai d‘Orsay. Der Vater Europas stirbt drei Jahre später in der Nähe von Metz. Wir haben ihm viel zu verdanken. Verspielen wir es nicht.

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Honé (59, SPD). Sie ist niedersäch­sische Ministerin für Bundesund Europaange­legenheite­n.
@ Die Autorin erreichen Sie unter forum@infoautor.de
Autorin dieses Beitrages ist Birgit Honé (59, SPD). Sie ist niedersäch­sische Ministerin für Bundesund Europaange­legenheite­n. @ Die Autorin erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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