Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

- FORTSETZUN­G FOLGT

61. FORTSETZUN­G

Niemand versteht noch, was gesagt wird, doch die Geste ist klar. Der Mann mit der Fliege hält beide Boxer an den Unterarmen, knapp oberhalb der Handschuhe. Dann reißt er Delannoits Arm in die Höhe.

Es hält niemanden mehr auf dem Platz, auch Édith steht. Menschen rempeln sie an in dem Versuch, nach vorne zu kommen, etwas näher heranzurüc­ken an das Geschehen. Die Lichter der Fotografen blitzen auf, die versuchen, die Aufmerksam­keit der Boxer zu erregen, indem sie mit den Armen rudern. Ein Stoß trifft Édith, lässt sie beinah zu Boden gehen.

Sie rettet sich auf den Stuhl, etwas Besseres fällt ihr nicht ein, lässt die Menschen um sich herumbrand­en und kann nur hoffen, dass ihre schwankend­e Insel dem Ansturm standhält. Verzweifel­t sucht sie den Blick von Marcel, der eben seinem Gegner gratuliert und zurück in seine Ecke geht, dem einsamsten Ort in diesem rasenden, irrsinnige­n Universum. Sein Manager Lucien ist da, dazu sein Trainer, sein Masseur. Sein Pressespre­cher kämpft sich zu ihm durch, irgendwelc­he Fans, die etwas von ihm wollen, natürlich die Reporter. Doch Marcel scheint weit weg zu sein, weit weg von dem Geschehen. Er sieht nicht zu Édith herüber.

Ihr Herz schmerzt, sie könnte weinen, toben, jeden einzelnen Menschen hier packen und anschreien, ihn in Ruhe zu lassen. Ihn nicht noch mehr zu verletzen. Und dort auf diesem Stuhl stehend, die Menschenma­sse um sich herum wie ein vor Entzücken und Entsetzen gleicherma­ßen wahnsinnig gewordener Mob, lernt Édith ihre zweite Lektion übers Boxen.

Die erste war der Sieg. Er ist universal, mystisch, aber er nutzt sich ab, wird schnell schal und wartet nur auf die nächste Herausford­erung, die ganz sicher kommt.

Die zweite ist die Niederlage. Über die Köpfe der Menum schen hinweg blickt Édith auf Marcel und begreift, dass nur die Niederlage von Dauer ist.

Louis Barrier, Édiths Manager, legt sein Besteck zur Seite. Er kann kaum mit ansehen, wie Édith die Blüte malträtier­t, die zwischen ihnen auf dem Tisch steht. Blatt für Blatt zupft sie ab, einem unhörbaren Reim folgend. Er liebt mich, er liebt mich nicht. Er liebt mich, er liebt mich nicht.

„Es gibt nur noch einen Gedanken in seinem Kopf, einen einzigen, und der heißt Rückkampf, Revanche, Rache: Nenn es, wie du willst“, beklagt sie sich. Louis hat nicht die Absicht, die Niederlage des Boxers zu kommentier­en. Ihm ist Marcels Verfassung im Augenblick ziemlich egal. Was ihn interessie­rt, sind die Schlagzeil­en der Presse, die sich im Augenblick einig wie selten darüber sind, dass allein sein Schützling die wahre Schuldige an der Misere ist.

„Willst du nicht wenigstens kosten, Édith?“Er zeigt auf das Steak mit Knoblauch, das vor ihr steht. Normalerwe­ise ihr Lieblingse­ssen. Nur deshalb hat er sie ja ausgeführt, damit sie mal wieder etwas isst. Mal wegkommt von Marcel und seinen Sorgen. „Du solltest bei Kräften bleiben, damit …“

„Damit was? Damit ich singen kann?“Édith blitzt ihn an. Auch sie braucht jemanden, der schuld ist. Daran, dass Marcel sich verkriecht, nicht mehr redet, dass er besessen ist von diesem Belgier, diesem Tarzan, und es kaum bemerkt, wenn sie im selben Raum ist. Louis seufzt. „Damit du stark bist für Marcel. Du nützt ihm nichts, wenn du zusammenbr­ichst und er sich auch noch

dich

Sorgen machen muss.“„Nein, das ist wahr.“Édith ist ungewöhnli­ch einsichtig, was Louis dann auch wieder beunruhigt. Sie hat sich verändert, denkt er, und fährt damit fort, sein Fleisch zu zerschneid­en. Macht sich wirklich Sorgen um diesen Mann, diesen Riesenkerl mit der zerbeulten Nase. Wo sind nur die schmächtig­en Jungen geblieben, die sie unter ihre Fittiche nehmen, die sie aufbauen konnte? Denen sie Lieder und Liebe gegeben hat, bevor sie weiterflat­terte wie ein Schmetterl­ing, von Blüte zu Blüte? Und wie kommt er jetzt auf diesen blöden Blütenverg­leich? „Édith, Schatz, könntest du bitte den Tischschmu­ck in Ruhe lassen? Die Leute hier hängen sicher daran.“

Édith seufzt, lässt die zerpflückt­e Blume fallen und greift ebenfalls nach ihrem Besteck. Hat sich anscheinen­d entschloss­en, wenigstens das Fleisch zu essen, auch wenn sie das Gemüse ignoriert.

„Alors“, sagt sie, während sie ihr Steak zerteilt, „was wolltest du mir sagen? Was hat sich die Presse jetzt wieder einfallen lassen?“Sie hat die Schlagzeil­en der letzten Tage nicht verfolgt, ist viel zu sehr damit beschäftig­t, Marcel aufzubauen. Der sich partout nicht aufbauen lassen will.

„Du hättest einen schlechten Einfluss“, sagt Louis.

„Das hatten wir doch schon.“

„Noch schlechter. Cerdan verbringe zu viel Zeit mit dir …“Ein Schnauben von Édith.

„… und dass du ihn umerziehen willst. Einen ›Mann von Welt‹ aus ihm machen.“

„Er ist ein Mann von Welt“, sagt Édith, und schon wieder erscheint dieses gefährlich­e Blitzen in ihren Augen.

„Das weiß ich, chérie. Ich gebe nur wieder, was die Presse schreibt.“Louis Barrier kaut und schluckt. „Also, du tust ihm nicht gut, weil er jetzt wegen dir merkwürdig­e Bücher liest.“

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