Nordwest-Zeitung

Das vergessene Brexit-Drama

Gespräche zwischen London und Brüssel in der Sackgasse – Unterhändl­er Barnier besorgt

- VON CHRISTOPH MEYER UND VERENA SCHMITT-ROSCHMANN

In wenigen Monaten sollen die Beziehunge­n zwischen der EU und Großbritan­nien neu geregelt sein. Doch die Differenze­n scheinen derzeit unüberbrüc­kbar.

BRÜSSEL/LONDON – Gut 100 Tage ist der Brexit her, schon wirkt er wie ein Phantom aus ferner Vergangenh­eit. Die Corona-Krise hat alles verdrängt. Doch im Schatten des großen Dramas spielt sich ein kleineres ab. Schon zum dritten Mal seit Anfang März brüteten diese Woche die Unterhändl­er der Europäisch­en Union und Großbritan­niens darüber, wie die frisch geschieden­en Partner künftig zusammenar­beiten können. Ziel ist, den Schaden für die eng verwobene Wirtschaft so klein wie möglich zu halten. Aber die Ergebnisse sind ernüchtern­d.

Worüber wird überhaupt verhandelt

Es geht um ein Handelsabk­ommen, aber auch um Fischereir­echte, Markenrech­te, Freizügigk­eit, gemeinsame Verbrecher­jagd, Datenschut­z, Klimaschut­z, Energiever­sorgung,

die Sicherung von Flugund Bahnverkeh­r – kurzum: um alles, was seit dem Brexit Ende Januar nicht mehr geregelt ist. Bislang hat sich nur deshalb noch nichts geändert, weil bis Ende 2020 eine Übergangsp­hase läuft. Solange ist Großbritan­nien noch im europäisch­en Binnenmark­t und in der Zollunion und hält sich an alle EU-Regeln.

Warum ist eine neue Vereinbaru­ng wichtig

Ohne neue Vereinbaru­ngen droht Ende des Jahres ein harter Bruch. Nach den Regeln der Welthandel­sorganisat­ion müssten zum Beispiel Zölle eingeführt werden, nach EURegeln wären strikte Warenkontr­ollen nötig. Und Hunderte Rechtsfrag­en wären ungeklärt. Für die Wirtschaft beider Seiten ist das ein Schreckens­zenario mitten in der Corona-Krise.

Warum ist die EU unzufriede­n

EU-Unterhändl­er Michel Barnier zeigte sich am Freitag nach Abschluss der Verhandlun­gsrunde

besorgt. „Ich bin nicht optimistis­ch“, sagte der Franzose. Er wirft Großbritan­nien eine Blockadeha­ltung bei wichtigen Themen vor. Dazu zählt das sogenannte Level Playing Field, also die Forderung nach gleichen Wettbewerb­sbedingung­en zu beiden Seiten des Ärmelkanal­s. Die EU bietet ein Handelsabk­ommen ohne Zölle und Mengenbegr­enzungen, verlangt dafür aber die Einhaltung gleicher Umwelt- und Sozialstan­dards. Weitere Knackpunkt­e sind für die EU Fischereir­echte in britischen Gewässern und eine

Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs zur Überwachun­g der Vereinbaru­ngen beider Seiten.

Was will Großbritan­nien erreichen

Die Briten haben bei allen drei Punkten rote Linien gezogen. Sie verlangen, dass die EU ihre Forderung nach einem „Level Playing Field“fallen lässt. Das schränke ihre Souveränit­ät ein, selbst Regeln zu setzen und sich von EU-Vorgaben zu befreien. Zudem sei es weit mehr, als die EU bisher von anderen Handelspar­tnern gefordert habe. Sie wollen den Zugang zu ihren reichen Fischgründ­en nach eigenem Gutdünken regeln. Und sie wollen den Europäisch­en Gerichtsho­f nicht als Schiedsric­hter anerkennen.

Warum hat London keine Angst vorm harten Bruch

Premiermin­ister Boris Johnson setzt offenbar darauf, mit einer Mischung aus Pokern und Zeitdruck doch noch mehr Zugeständn­isse aus Brüssel zu erreichen. Zu gegebener Zeit werde sich Johnson selbst einschalte­n, hieß es kürzlich aus Verhandlun­gskreisen in London. Für Juni ist ein Gipfel beider Seiten geplant.

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DPA-BILD: LENOIR „Ich bin nicht optimistis­ch“: EU-Unterhändl­er Michel Barnier wirft Großbritan­nien eine Blockadeha­ltung vor.

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