Mit Reinhold Messner auf Spurensuche
Neue Arte-Dokumentation „Mythos Cerro Torre“führt Bergsteiger-Legende nach Patagonien
Die Dokumentation ist Messners vierte Regiearbeit. Er geht wie ein Detektiv der Frage nach, ob 1959 Maestri und Egger den Cerro Torre bestiegen haben – und wie Egger zu Tode kam.
Herr Messner, welche Lehren ziehen Sie aus der Corona-Krise?
Messner: Zuerst einmal, dass wir Menschen trotz unserer Wissenschaft im Großen und Ganzen der Natur ausgeliefert sind. Wir brauchen keine Außerirdischen und keine Atombomben, um uns umzubringen. Es reicht ein winziges Virus, das wir nicht einmal mit bloßem Auge sehen können, um die Welt lahmzulegen.
Sie sind 75 Jahre alt und gehören zur Risikogruppe. Haben Sie Angst vor der Ansteckung? Messner: Nein, ich habe keine Angst vor der Ansteckung. Wir Menschen um die 70 plus sollten aber bereit sein, daheim zu bleiben und die Regeln alle einzuhalten. Es ist viel wichtiger, dass die Jungen eine Chance haben, so langsam wieder ins praktische Leben zurückzukehren, denn vor allem sie müssen die Folgen der Krise einmal ausbaden.
Ihre neue Dokumentation „Mythos Cerro Torre“dreht sich um die Erstbesteigung des Cerro Torre in Patagonien 1959, die gar keine war. Messner: Richtig, diese Erstbesteigung hat damals nicht stattgefunden, da bin ich mir hundertprozentig sicher, und die Fachleute, die ich hinzugezogen habe, sind das auch. Es ist damals ein Versuch gemacht worden, diese über 3000 Meter hohe Granitnadel zu besteigen, aber der ist nach etwa 300 Metern steckengeblieben. Der italienische Bergsteiger Cesare Maestri war 1959 nicht oben, wie er behauptet hat, und der österreichische Bergsteiger Toni Egger ist bei diesem Versuch gestorben, wobei wir nach wie vor nicht genau wissen, was da passiert ist.
Waren Sie überrascht von dieser Erkenntnis? Messner: Nein, ich weiß es, seit Cesare Maestri 1970 den
Berg dann tatsächlich bestiegen hat. Aber er hat 1970 eine ganz andere Route und eine völlig andere Methode gewählt, was mir als Bergsteiger eindeutig zeigt, dass die Besteigung 1959 nicht stattgefunden haben kann. Außerdem hat Maestri behauptet, dass er 1959 beim Aufstieg und beim Abstieg mehrere Bohrhaken in der Wand hat stecken lassen. Doch die wurden später nie gefunden.
Warum hat Maestri gelogen? Messner: Das Wort Lüge würde ich nicht in den Mund nehmen. Es war einfach so, dass Maestri vor der Expedition hinausposaunt hat, dass es für ihn kein unmöglich gibt. Er hat den Journalisten erzählt, dass er entweder als Sieger oder überhaupt nicht mehr wiederkommt, also sein Leben am Cerro Torre lässt – und damit begab er sich in eine Falle, aus der er nicht mehr herauskam. Wir möchten ihn mit unserem Film auch nicht in die Pfanne hauen, das ist mir sehr wichtig.
Kennen Sie ihn? Messner: Ja, ich habe ihn vor gar nicht langer Zeit mal getroffen. Er war damals schon ein alter kranker Mann und wollte sich mit mir treffen –
Alpen überlaufen. Aber in den großen schönen Wänden in den Westalpen im Berner Oberland beispielsweise sind sogar weniger Leute als zu meiner Zeit unterwegs. Im Himalaya allerdings sind so langsam alle Achttausender überlaufen.
Gerade Spitzenalpinisten wie Sie haben den Himalaya in den Siebziger- und Achtzigerjahren populär gemacht. Tut Ihnen das im Nachhinein leid? Messner: Wir haben sicher Begeisterung geweckt bei diesen Leuten, die heute dahin gehen. Aber man kann glaube ich nicht sagen, dass zum Beispiel ich den Tourismus heraufbeschworen habe. Im Gegenteil: Ich habe mich von Anfang an gegen diese Art des Tourismus am Everest und den anderen Achttausendern ausgesprochen und immer gesagt, dass das mit Alpinismus nichts zu tun hat. Der Everest ist ja zu einem Wanderberg umfunktioniert worden, wo Touristen auf einer aufwendig präparierten Piste vom Basislager bis zum Gipfel geführt werden. Da wird vorher regelrechte Straßenarbeit geleistet, da gibt es Seile, Leitern und Sauerstoffdepots. Das hat mit Alpinismus gar nichts zu tun, denn der Alpinist geht nur dorthin, wo null Infrastruktur ist.
Ist es ein erhebendes Gefühl, auf dem Gipfel eines Achttausenders zu stehen – oder denkt man: schnell wieder runter? Messner: Das Letztere ist der Fall, Sie wollen nur schnell wieder runter. Und zwar, weil Sie wissen, dass Sie nur unten sicher sind. Wir Menschen haben ja ein großes Bedürfnis nach Sicherheit, die CoronaPandemie derzeit zeigt uns aber, dass wir nicht in der Lage sind, hundertprozentige Sicherheit zu schaffen, weil die Natur unberechenbar ist.
Mythos Cerro Torre