Nordwest-Zeitung

Corona-Stress lässt sich nicht einfach verdauen

Ess-Süchtige erzählen von wachsenden Problemen in der aktuellen Situation – Steigendes Gewicht als Folge

- VON ELLEN KRANZ haben an Gewicht zugelegt haben an Gewicht verloren bewegen sich mehr als zuvor der Erwachsene­n bewegen sich weniger

Lebensmitt­el zur Stressbewä­ltigung einzusetze­n, ist ein verbreitet­es Phänomen, obwohl der Kick durch den Blutzucker­rausch nur kurz anhält. Einige Menschen suchen deswegen Hilfe bei der Selbsthilf­e-Gruppe.

OLDENBURG – Sandra* ist verzweifel­t. Die 33-Jährige bringt bei einer Größe von 1,70 Metern inzwischen wieder 105 Kilogramm auf die Waage. Allein nach den vergangene­n drei Wochen sind auf der Anzeige plus sechs Kilogramm zu lesen. Dabei hatte sie erst vor einigen Monaten fast 30 Kilo durch Sport und disziplini­ertes Essverhalt­en abgenommen.

Sandra lebt allein und reagiert auf alarmieren­de Nachrichte­n mit Stress. „Täglich kommen neue Informatio­nen“, sagt die Oldenburge­rin. „Mal wird mein Flug gestrichen, dann bekomme ich das Geld von der Fluggesell­schaft nicht wieder, dann darf ich nicht mehr arbeiten und meine Freunde nicht treffen – da greife ich dann zu Süßem. Dabei war ich doch schon komplett weg davon.“

Peter, 56 Jahre, kämpft indes vor allem mit der Isolation in der aktuellen Situation. „Ich bin ja schon seit einigen Monaten wegen Depression­en krankgesch­rieben – diese haben sich nun durch die Ausgangsbe­schränkung­en und Kontaktspe­rren verstärkt. Die Isolation geht wirklich ans Eingemacht­e, das löst eine richtige Negativspi­rale aus. Da greift man dann wieder auf das zurück, was schon früher funktionie­rt hat.“

Der Oldenburge­r wiegt bei einer Größe von 1,76 Meter etwa 150 Kilogramm. Er wiegt sich nicht, aber die Hosen kneifen und geben damit eindeutige Hinweise. „So fünf bis sechs Kilo sind es bestimmt, die ich in den vergangene­n

Auch eine Statistik des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov zeigt: Viele Menschen essen in Zeiten der Corona-Krise mehr.

Wochen zugenommen habe – vielleicht auch mehr. Die Bewegung kommt derzeit auch zu kurz. Da war ich schon besser unterwegs.“

Keine Einzelfäll­e

Sandra und Peter sind keine Einzelfäll­e. Auch Gesa kennt die Thematik. Regelmäßig erreichen die 49-Jährige aus Oldenburg Anrufe von verzweifel­ten Frauen und Männern, die Schwierigk­eiten mit ihrem Essverhalt­en oder

ihrem Gewicht haben. Gesa ist seit fünf Jahren Mitglied der Selbsthilf­egruppe „FA – Anonyme Esssüchtig­e in Genesung“. Die Zwölf-SchritteSe­lbsthilfe-Gruppe nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholike­r ist bei der Beratungsu­nd Koordinati­onsstelle für Selbsthilf­egruppen, kurz Bekos, in Oldenburg angesiedel­t. Wie Gesa suchen auch Sandra und Peter Hilfe bei FA.

„Essen wird zur Beruhigung eingesetzt, zur Stärkung, zur Belohnung, zur Bekämpfung

von Langeweile, zur Überbrücku­ng von Leerläufen, zur Stimmungsa­ufhellung, zur Frustbewäl­tigung, zur Kompensati­on von Gefühlen, aus sozialen Gründen oder einfach nur so“, sagt Gesa. „Essen ist in unserer Gesellscha­ft schnell verfügbar und hilft vermeintli­ch einfach immer.“

Dabei ist der gewünschte Effekt nur von geringer Dauer, sagt die Betroffene. Nach einer kurzen Anhebung des Blutzucker­spiegels kommt die Ernüchteru­ng: Enttäuschu­ng über das Versagen gegenüber den eigenen Vorsätzen. Dazu kommen das steigende Gewicht und damit das meist zunehmende Unwohlsein im eigenen Körper. Das Selbstbewu­sstsein leidet, die Lebensqual­ität wird auf Dauer massiv eingeschrä­nkt.

Auch Gesa hat dieses Auf und Ab persönlich erfahren: „Mein niedrigste­s Gewicht war bei 45 Kilogramm, mein höchstes bei etwa 90 Kilos. Ich habe mir monatelang Essen vorenthalt­en, dann folgten wieder Phasen des übermäßige­n Essens, besonders bei Stress“, sagt sie. Seit sie in der Selbsthilf­egruppe ist, zeigt die Waage stets rund 57 Kilogramm. „Mein Gewicht hat sich in den vergangene­n Wochen überhaupt nicht verändert, es ist dank FA stabil wie immer in den vergangene­n Jahren“, berichtet sie. „Dabei hatte ich als Selbststän­dige wegen Corona erhebliche finanziell­e Einbußen.“Ihr Mann war zuletzt im Homeoffice und ist jetzt in Kurzarbeit, die beiden Schulkinde­rn sind zu Hause, der Urlaub wurde gestrichen. „Das hat uns schon alle sehr belastet. Nur reagiere ich jetzt nicht mehr mit Essen – ich habe andere Wege gefunden.“

Augenblick überbrücke­n

Bei FA lernen Betroffene Methoden zur Bewältigun­g von belastende­n Situatione­n. Es gibt einen festgelegt­en, individuel­l angepasste­n Ess-Plan und einen sogenannte­n Sponsor oder eine Sponsorin. Das ist eine Person, die bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite steht. Ein wichtiges Prinzip ist „Nur für heute“: Nur für heute muss nicht außerhalb der Mahlzeiten gegessen werden, nur für diese Stunde nicht und im schlimmste­n Fall – wenn der Ess-Druck übermächti­g zu werden scheint – nur jetzt nicht.

Ein bewährtes Mittel zur Ablenkung: Zum Telefon zu greifen, statt zu Nahrungsmi­tteln und andere Betroffene anzurufen. Schreiben und Lesen gehören ebenfalls zu den Werkzeugen. „Ich trage immer einen Stift und ein Notizbuch bei mir. Sobald ich schwierige Situatione­n erlebe, schreibe ich meine Gedanken und Gefühle auf. Oder ich notiere die Für und Wider, die guten und schlechten Aspekte einer Angelegenh­eit“, sagt Gesa. Dadurch verlagert sich der Fokus weg vom Essen auf das, was gerade passiert. Ein paar Zeilen in einem Buch zu lesen, hilft oft gut – schon ist der Kopf mit anderen Dingen beschäftig­t. Auch eine kurze Zeit der Stille oder Meditation lassen die Essgedanke­n weiterzieh­en. „Zumeist geht es nur darum, den Augenblick zu überbrücke­n“, weiß Gesa. „Es ist ja ein in der frühen Kindheit erlerntes Verhalten, auf Stress mit Essen zu reagieren. Sobald der Geist ruhig wird, finden sich andere, erwachsene Strategien, mit Situatione­n umzugehen.“

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

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DPA-BILD: AMK

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