Nordwest-Zeitung

83-Jährige erkennt sich auf Foto wieder

Argula Töllner (geb.Seeber) floh mit ihrer Familie aus Schlesien

- VON THOMAS HUSMANN

Ihre Mutter und Oma weigerten sich, die polnische Staatsbürg­erschaft anzunehmen. Die Flucht endete auf dem Huder Bahnhof.

OLDENBURG – Als Argula Töllner vor gut einer Woche die NWZ las, traf sie fast der Schlag: „Das bin doch ich auf dem Foto, zusammen mit meinem Bruder Volkmar zwischen unserem Gepäck auf dem Huder Bahnhof.“Das Bild hatte sie zuvor noch nicht gesehen, erinnert sich auch nicht daran, vor 76 Jahren dort fotografie­rt worden zu sein. Was sie aber sehr gut in Erinnerung behalten hat, sind die Umstände, die damals dazu führten, dass sie sich mit ihren fünf Geschwiste­rn, ihrer Mutter und Großmutter, bibbernd und frierend und in einen mit Pelzkragen besetzten Mantel gehüllt, auf dem zugigen Bahnhof wiederfand.

Sie waren aus ihrem Heimatort Habelschwe­rdt in Schlesien gekommen. Nicht bereit – wie von der Verwaltung verlangt – zu akzeptiere­n, sich als Polen eintragen zu lassen. Sie waren Deutsche und wollten das auch bleiben. Die Russen, die sich auch mit 32 Soldaten in ihrem Haus breit gemacht hatten, viel Alkohol tranken, wie die 83-Jährige sich erinnert, und im Wohnzimmer ihre Motorräder reparierte­n, trieben sie und andere Deutsche Ende 1946 dann auf dem Neuen Markt zusammen, bereit zum Abmarsch zum 42 Kilometer entfernten Landeck. Die Soldaten kontrollie­rten, ob die Familien

Bahnhof Hude Ende 1946: Auf dem am 12. Mai 2020 in der NWZ erschienen­en Foto hat Argula Töllner (geb.Seeber) sich und ihren Bruder Volkmar wiedererka­nnt.

durchgangs­lager Friedland gebracht wurden. „Unvorstell­bar schlechte hygienisch­e Bedingunge­n herrschten dort“, erzählt die damals Neunjährig­e weiter. Doch schon nach einer Woche ging es wieder zum Bahnhof, wo die Familie erneut in einen Zug gesetzt wurde. Töllner: „Die Abteile hatten Fenster, was für ein Luxus.“

Als der Zug zum letzten Mal stoppte, war die Endstation erreicht. „Ude“, verstand die Familie die Ansage, gemeint war Hude im Landkreis Oldenburg. Sie und ihr Bruder Volkmar wurden im Bahnhof zurückgela­ssen und sollten das Gepäck bewachen, die anderen schauten sich um. „Bündel mit zusammenge­rollten Betten und ein wenig Kleidung hatten wir dabei“, erzählt die 83-Jährige. Die Bürgermeis­ter aus den benachbart­en Dörfern waren angewiesen worden, die Bewohner aufzuforde­rn zum Bahnhof zu kommen, wo sie die Flüchtling­e in Empfang nehmen und mit nach Hause nehmen sollten. Töllner: „Wir wurden einquartie­rt.“Doch sie und ihre Geschwiste­r mussten lange warten. „Wir waren acht Personen, die wollte niemand haben.“Nur ihre und eine weitere aus neun Personen bestehende Gruppe – darunter ein alter gebrechlic­her

Mann – waren noch da, als doch noch jemand auftauchte. „Zunächst sahen wir nur einen großen Hut, dann erkannten wir ein Gesicht.“

Der Mann war Landwirt, hieß Lüder Gramberg, und nahm die Familie mit zu seinem Hof in Dingstede. Töllner: „Zwei Schweineko­ven gab es dort, einen hatte er gereinigt – das war unser neues Zuhause. Stroh gab es nicht, das war für die Kühe. Also zogen wir mit unseren Kitteln in den Wald und sammelten trockenes Laub, das wir in dem Schweineko­ven ausschütte­ten und auf dem wir schliefen.“Später sog die Familie auf den Dachspeich­er. „Bitterkalt war es da im Winter, heiß im Sommer und wenn es regnete, tropfte es durch“, erzählt sie.

In der Volksschul­e Dingstede gab es eine Klasse, in der alle Kinder, egal welchen Alters, unterricht­et wurden. Bücher und eine Tafel gab es nicht, also zog der Lehrer mit den Kindern nach draußen und brachte ihnen in der Natur das Wichtigste bei. „Schreiben habe ich mit meiner Mutter gelernt. Ich hielt einen Stock in der Hand und schrieb die Buchstaben in den Sand.“

Der Wald hinter dem Hof war wunderschö­n für die Kinder. Stahlhelme, die sie gefun1947

den hatten, wurden zu Kochtöpfen und Nachtgesch­irr umfunktion­iert. In einem alten Ölkanister holten sie Wasser. In Dingstede gab’s damals ein Geschäft, wo Zucker und Mehl eingekauft werden konnten. Dann war da noch die Gastwirtsc­haft Strackerja­n mit einer dazugehöri­gen Kegelbahn und dem einzigen Telefonans­chluss im Dorf. Fürs Erste war der Familie geholfen. Sie war zusammen geblieben, nur der Vater fehlte noch.

Argula Töllner

Von ihm wussten sie, dass er zum Ende des Krieges die Ostfront verlassen hatte und nach Westen abgezogen worden war. Ein Glück, wie sich herausstel­len sollte. Denn die Briten setzten den Arzt als Mediziner in einem Gefangenen­lager in England ein. Dort musste er zwar bis zum Schluss bleiben, bis der letzte Gefangene das Lager verlassen hatte, doch kehrte er Ende nach Deutschlan­d zurück und die Familie war wieder vereint. „Aus dieser Zeit existieren viele schöne Briefe, die sich Mutter und Vater schrieben“, erzählt Töllner.

Ein Angebot, als Knecht auf dem Hof zu schuften, schlug ihr Vater auf. Stattdesse­n fuhr er mit dem Rad nach Delmenhors­t, wo er wieder als Mediziner arbeitete. Unbezahlt, weshalb es ihn schließlic­h zum Versorgung­samt nach Oldenburg verschlug. Die Familie zog in ein Haus in Sandkrug und die Kinder konnten die mehrklassi­ge Volksschul­e besuchen.

Trotz ihrer lückenhaft­en Schulausbi­ldung schaffte es Argula Töllner, die Aufnahmepr­üfung am Graf-Anton-Günther Gymnasium zu bestehen, wo sie 1957 ihr Abitur ablegte. Dann wurde sie Diakoniesc­hwester, arbeitete im Operations­saal und sparte ihr Geld, um in Münster ein Medizinstu­dium zu beginnen. Zum Physikum lernte sie ihren späteren Mann kennen. Die beiden heirateten im Oktober 1962 und bekamen vier Kinder, ihr Studium schloss sie nicht ab.

Johannes Töllner war von 1963 bis 1975 Militärdek­an, und ab 1975 Pastor in Eversten. Ihre fünf Kinder wurden zwischen 1963 und 1969 geboren. Ihr Mann ist mittlerwei­le gestorben. Argula Töllner wohnt in einem schönen Haus in Eversten und blickt auf ein spannendes Leben zurück – mit sich und der Welt im Reinen.

Ihre Mutter hatte immer Wert darauf gelegt, auch in schlechten Zeiten Haltung zu bewahren und am Alltagsleb­en festzuhalt­en. Das war schon in ihrer Heimatstad­t bis zur Vertreibun­g so gewesen, als sie und eine Schwester auch noch zum Klavierunt­erricht gingen, als der Krieg zu Ende war und alles drunter und drüber ging. Argula Töllner: „Wir haben uns immer ein Stück Normalität bewahrt. Das hat uns sehr geholfen.“

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BILD: THOMAS HUSMANN Erinnerung­en: Argula Töllner (geb. Seeber) hat als junges Mädchen die Flucht aus Schlesien erlebt.
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BILD: ULF MIDDENDORF

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