MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
Marcel nimmt ihre Hand, küsst ihre Fingerspitzen und wirft ihr dabei einen solch liebevollen Blick zu, dass Édith errötet.
Doch es liegt nicht nur an ihr. Das weiß sie. Der gewonnene Kampf gegen den Belgier beflügelt ihn, der zurückeroberte Titel als Europameister. Und die neue Herausforderung gegen den „Mann aus Stahl“, gegen Tony Zale. O ja, Marcel greift nach dem Weltmeistertitel, und die Presse ist schon jetzt aus dem Häuschen. Und der Boxer wieder mal im Training.
„Darfst du das denn überhaupt? Calvados?“Sie lässt zu, dass er an ihrem Zeigefinger knabbert.
„Ich darf alles, ich bin ein erwachsener Mann.“
„Außer Lucien Roupp ist in der Nähe.“
„Ah, Lucien. Lass uns nicht wieder davon anfangen.“Marcel küsst die Innenfläche ihrer Hand, und Édith weiß, was er denkt.. Dem Manager ist die
Beziehung zwischen ihr und seinem Schützling ein Dorn im Auge, und es vergeht kaum ein Tag, an dem er und Marcel deswegen nicht aneinandergeraten. Dass Édith mit einer Freundin just in diesen Wochen Urlaub in Anet macht, knapp dreißig Kilometer von Marcels geheimem Trainingslager in der Normandie entfernt, hat ihn nur noch übellauniger gemacht. Und doch lassen sich Marcel und sie ihre kleinen Fluchten nicht nehmen. Genießen die gestohlene Zeit umso mehr.
„Wann denkst du, ist deine Freundin Ginou wieder zurück?“, fragt Marcel und lächelt wieder die Bedienung an, die den Kaffee und zwei Gläser mit Calvados bringt. Und die tatsächlich schüchtern zurücklächelt, was die Grübchen noch tiefer werden lässt.
Édith beobachtet amüsiert, dass das Mädchen aufrechter geht, ihre Schritte jetzt zielsicherer gesetzt werden: Marcels Aufmerksamkeit hat im Nu eine Prinzessin aus ihr gemacht. „Das Schloss ist groß“, antwortet sie, „da gibt es viel zu besichtigen. Außerdem soll sie danach noch ein wenig in der schönen Gegend herumspazieren, habe ich ihr gesagt.“Sie hebt die Schale an den Mund und trinkt.
„Mais oui, die schöne Gegend … Wahrscheinlich sieht deine Ginou recht viele Apfelbäume. Édith, du bist grausam.“
„Du hast gut reden. Dein Chauffeur wird sich auch langweilen.“– „Dafür wird er schließlich bezahlt.“
„Ach was. Ich bin nicht grausam. Ginou ist ein lebenslustiges junges Geschöpf, das weiß sich schon zu beschäftigen.“Marcel lacht. „Woher kennst du sie?“
„Eigentlich heißt sie Ginette, Ginette Richer. Sie ist die Freundin von Guy Bourguignon, einem der Compagnons, du erinnerst dich? Ich hab ihn dir einmal vorgestellt. Bei einer meiner Tourneen durch Schweden hat sie uns begleitet. Guy hatte sie als meine Friseurin eingeschmuggelt, und ich sage dir: Von Haaren hat sie keine Ahnung. Das sah man schon damals, als sie den ersten Lockenwickler in der Hand hielt.“
„Und du hast sie trotzdem mitfahren lassen?“
„Sicher. Sie ist witzig. Und mir treu ergeben.“
„Eine gute Freundin also.“Marcel nimmt seinen Calvados hoch. „Auf die Freundschaft!“– „Auf die Freundschaft!“, erwidert Édith, die beiden Gläser klirren.
Es ist in der Tat ein sehr guter Calvados, der hier ausgeschenkt wird. Ebenso gut wie der Kuchen, den das Mädchen kurze Zeit später bringt und der noch warm ist. Eine Weile lang essen Édith und Marcel schweigend, genießen die Gegenwart des anderen und das Stückchen Normalität, das sie sich ergattert haben. Hier lauern keine Journalisten, sind sie nicht berühmt, anderweitig verheiratet, den unermüdlichen Proben oder dem streng disziplinierten Training unterworfen. Nachher, morgen, irgendwann wieder. Jetzt sind sie bloß eine Frau und ein Mann, die sich lieben, die zusammen sind und Kuchen essen. Das Leben kann einfach herrlich und herrlich einfach sein!
„Und was machen wir danach?“, fragt Marcel und Édith kennt ihn gut genug, um den leicht heiseren Unterton zu hören und zu ahnen, was er sich vorstellt.
„Nun, ich denke, wir sollten uns mal die Gegend ansehen“, erwidert sie mit unschuldigem Augenaufschlag. „Hier soll es viele schöne Apfelbäume geben.“
„Scheiß auf die Äpfel“, raunt Marcel ihr zu und legt ihr unter dem Tisch seine Hand aufs Knie. Jetzt sind seine Augen
nicht mehr warm, sondern feurig, sein Lächeln gleicht einem Zähnefletschen, und das ist es, was Édith ganz besonders an ihm liebt, dies plötzliche Umschalten, der Angriff. Als würde ein Zug auf sie zurasen, der sich nicht aufhalten lässt. Ein Gefühl, das sie durchaus schätzt. Bisher war immer sie es, die unersättlich in ihrem Begehren war. Manche ihrer Männer haben regelrecht Angst vor ihr gehabt, sich erpresst gefühlt, so wie Nono: „Ich oder Hitler“, hat sie das tatsächlich gesagt? Sicher, sie war imstande, sich körperliche Liebe zu erpressen, sie einzufordern, sie zu erbetteln, je nachdem, was die Umstände erforderten. Während der sechsunddreißig Stunden dauernden Bahnfahrt von Paris nach Berlin hat Édith ihren Orchesterleiter Fred Adison so sehr gefordert, dass er per Losverfahren seinen sofortigen Nachfolger unter den Mitgliedern des Orchesters bestimmen ließ.