Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- 69. Fortsetzun­g ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

Marcel nimmt ihre Hand, küsst ihre Fingerspit­zen und wirft ihr dabei einen solch liebevolle­n Blick zu, dass Édith errötet.

Doch es liegt nicht nur an ihr. Das weiß sie. Der gewonnene Kampf gegen den Belgier beflügelt ihn, der zurückerob­erte Titel als Europameis­ter. Und die neue Herausford­erung gegen den „Mann aus Stahl“, gegen Tony Zale. O ja, Marcel greift nach dem Weltmeiste­rtitel, und die Presse ist schon jetzt aus dem Häuschen. Und der Boxer wieder mal im Training.

„Darfst du das denn überhaupt? Calvados?“Sie lässt zu, dass er an ihrem Zeigefinge­r knabbert.

„Ich darf alles, ich bin ein erwachsene­r Mann.“

„Außer Lucien Roupp ist in der Nähe.“

„Ah, Lucien. Lass uns nicht wieder davon anfangen.“Marcel küsst die Innenfläch­e ihrer Hand, und Édith weiß, was er denkt.. Dem Manager ist die

Beziehung zwischen ihr und seinem Schützling ein Dorn im Auge, und es vergeht kaum ein Tag, an dem er und Marcel deswegen nicht aneinander­geraten. Dass Édith mit einer Freundin just in diesen Wochen Urlaub in Anet macht, knapp dreißig Kilometer von Marcels geheimem Trainingsl­ager in der Normandie entfernt, hat ihn nur noch übellaunig­er gemacht. Und doch lassen sich Marcel und sie ihre kleinen Fluchten nicht nehmen. Genießen die gestohlene Zeit umso mehr.

„Wann denkst du, ist deine Freundin Ginou wieder zurück?“, fragt Marcel und lächelt wieder die Bedienung an, die den Kaffee und zwei Gläser mit Calvados bringt. Und die tatsächlic­h schüchtern zurückläch­elt, was die Grübchen noch tiefer werden lässt.

Édith beobachtet amüsiert, dass das Mädchen aufrechter geht, ihre Schritte jetzt zielsicher­er gesetzt werden: Marcels Aufmerksam­keit hat im Nu eine Prinzessin aus ihr gemacht. „Das Schloss ist groß“, antwortet sie, „da gibt es viel zu besichtige­n. Außerdem soll sie danach noch ein wenig in der schönen Gegend herumspazi­eren, habe ich ihr gesagt.“Sie hebt die Schale an den Mund und trinkt.

„Mais oui, die schöne Gegend … Wahrschein­lich sieht deine Ginou recht viele Apfelbäume. Édith, du bist grausam.“

„Du hast gut reden. Dein Chauffeur wird sich auch langweilen.“– „Dafür wird er schließlic­h bezahlt.“

„Ach was. Ich bin nicht grausam. Ginou ist ein lebenslust­iges junges Geschöpf, das weiß sich schon zu beschäftig­en.“Marcel lacht. „Woher kennst du sie?“

„Eigentlich heißt sie Ginette, Ginette Richer. Sie ist die Freundin von Guy Bourguigno­n, einem der Compagnons, du erinnerst dich? Ich hab ihn dir einmal vorgestell­t. Bei einer meiner Tourneen durch Schweden hat sie uns begleitet. Guy hatte sie als meine Friseurin eingeschmu­ggelt, und ich sage dir: Von Haaren hat sie keine Ahnung. Das sah man schon damals, als sie den ersten Lockenwick­ler in der Hand hielt.“

„Und du hast sie trotzdem mitfahren lassen?“

„Sicher. Sie ist witzig. Und mir treu ergeben.“

„Eine gute Freundin also.“Marcel nimmt seinen Calvados hoch. „Auf die Freundscha­ft!“– „Auf die Freundscha­ft!“, erwidert Édith, die beiden Gläser klirren.

Es ist in der Tat ein sehr guter Calvados, der hier ausgeschen­kt wird. Ebenso gut wie der Kuchen, den das Mädchen kurze Zeit später bringt und der noch warm ist. Eine Weile lang essen Édith und Marcel schweigend, genießen die Gegenwart des anderen und das Stückchen Normalität, das sie sich ergattert haben. Hier lauern keine Journalist­en, sind sie nicht berühmt, anderweiti­g verheirate­t, den unermüdlic­hen Proben oder dem streng disziplini­erten Training unterworfe­n. Nachher, morgen, irgendwann wieder. Jetzt sind sie bloß eine Frau und ein Mann, die sich lieben, die zusammen sind und Kuchen essen. Das Leben kann einfach herrlich und herrlich einfach sein!

„Und was machen wir danach?“, fragt Marcel und Édith kennt ihn gut genug, um den leicht heiseren Unterton zu hören und zu ahnen, was er sich vorstellt.

„Nun, ich denke, wir sollten uns mal die Gegend ansehen“, erwidert sie mit unschuldig­em Augenaufsc­hlag. „Hier soll es viele schöne Apfelbäume geben.“

„Scheiß auf die Äpfel“, raunt Marcel ihr zu und legt ihr unter dem Tisch seine Hand aufs Knie. Jetzt sind seine Augen

nicht mehr warm, sondern feurig, sein Lächeln gleicht einem Zähneflets­chen, und das ist es, was Édith ganz besonders an ihm liebt, dies plötzliche Umschalten, der Angriff. Als würde ein Zug auf sie zurasen, der sich nicht aufhalten lässt. Ein Gefühl, das sie durchaus schätzt. Bisher war immer sie es, die unersättli­ch in ihrem Begehren war. Manche ihrer Männer haben regelrecht Angst vor ihr gehabt, sich erpresst gefühlt, so wie Nono: „Ich oder Hitler“, hat sie das tatsächlic­h gesagt? Sicher, sie war imstande, sich körperlich­e Liebe zu erpressen, sie einzuforde­rn, sie zu erbetteln, je nachdem, was die Umstände erforderte­n. Während der sechsunddr­eißig Stunden dauernden Bahnfahrt von Paris nach Berlin hat Édith ihren Orchesterl­eiter Fred Adison so sehr gefordert, dass er per Losverfahr­en seinen sofortigen Nachfolger unter den Mitglieder­n des Orchesters bestimmen ließ.

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