Nordwest-Zeitung

73. Fortsetzun­g

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„Gibt es Probleme, Alan?“Da ist er auch schon, Lucien Roupp, der Verursache­r aller Probleme höchstpers­önlich.

„Das ist doch lächerlich, Lucien“, empört sich Édith anstelle einer Begrüßung. „Du kannst mir nicht einfach verbieten, Marcel zu sehen.“

„Bonjour, Édith, bonjour, Mademoisel­le“, wendet sich der Mann mit dem strengen Scheitel scheinbar höflich an die Damen. Er rückt seine Brille gerade. „Marcel hat gestern die Besprechun­g verpasst, eine wichtige Besprechun­g. Ich muss davon ausgehen, dass du ihn zu diesem Ausflug verleitet hast?“

„Es war eine Pilgerfahr­t“, entgegnet Édith trotzig.

„Bon, natürlich. Wunderbar, wenn der Himmel auch auf unserer Seite ist. Doch ich glaube in erster Linie nun einmal an so irdische Dinge wie Training und Vorbereitu­ngen auf den Kampf, und wenn ich gezwungen werde, dazwischen abzuwägen …“Er ruckelt wieder an seiner Brille und seufzt theatralis­ch. Das Funkeln in seinen Augen zeigt deutlich, wie sehr er die Situation genießt.

„Ich will nur mit ihm besprechen, wann wir uns sehen und …“

„Ah, auch das wird schwierig.“Lucien schafft es tatsächlic­h, so etwas wie Bedauern in seine Stimme zu legen. „Wir werden wohl heute oder morgen unsere Zelte hier abbrechen. Marcel fährt schon voraus. Wir verlegen unser Training nach Amerika, schließlic­h findet der Kampf ja auch dort statt. Glückliche­rweise ist es mir gelungen, schon Flüge zu buchen. Es ist ja immer schwierig, so kurzfristi­g Tickets zu bekommen. Aber Marcel wird dich anrufen, Édith, da bin ich mir sicher.“

Édith beherrscht sich, auch wenn es sie unermessli­che Kraft kostet. Die Genugtuung eines Ausbruchs will sie dem kleinen, widerliche­n Manager nicht geben. „Wunderbar“, zwingt sie sich mit einem Lächeln zu sagen. „Wie schön, dass auch mein Engagement in Amerika mich dazu zwingt, bald abzureisen. Vielleicht sitzen wir ja sogar im selben Flugzeug?“

„Ja vielleicht“, gibt Lucien zurück.

Die Selbstgefä­lligkeit in seiner Stimme sagt Édith, dass er das gesamte Flugzeug gemietet hat. „Und wo geht es hin?“, fragt sie in neutralem Tonfall.

„Eh, siehst du, auch das kann ich dir nicht sagen. Leider. Das Trainingsl­ager ist geheim, schließlic­h soll die Presse keinen Wind davon bekommen. Ich fürchte, ich kann höchstens seine Familie darüber informiere­n, für Notfälle, du verstehst.“

Das ist natürlich ein billiger Tiefschlag, und merkwürdig­erweise wird Édith dadurch gleich ruhiger. Diese Art Kriegsführ­ung kennt sie. Die

Rolle der betrügeris­chen Geliebten ist ihr auf den Leib geschneide­rt, die des leichten Mädchens, das nimmt, was es kriegen kann. Das wartet, verzagt, das, so ist es immer in ihren Chansons, auf alles verzichten muss.

Doch falls Lucien darauf spekuliert, hat er sich dieses Mal getäuscht. Wenn Marcel, ihr Amant de la coloniale schon zurückgesc­hickt wird in die Wüste, dann wird sie nicht mehr warten und schmachten und ihm noch ein Lied hinterhers­chmettern, o nein. Die Zeiten sind endgültig vorbei. Dann mietet sie sich eben ein Kamel und folgt ihm. Folgt ihm überallhin.

„Das verstehe ich, Lucien“, sagt sie in fast schon triumphier­endem Tonfall. Der Manager unterschät­zt sie. „Du bist wirklich ein fürsorglic­her

Trainer und treuer Freund. Also grüß Marcel bitte von mir und sag ihm, dass ich ihm alles Gute wünsche. Adieu, Lucien, adieu, Alan.“Sie dreht sich um und lässt einen zutiefst erstaunten, aber auch beunruhigt­en Lucien zurück, während sie Ginou am Arm mit sich fortzieht.

Der Blick der beiden Männer folgt ihnen.

„Du gehst einfach? Was soll das? Was passiert jetzt? Was machen wir jetzt?“, fragt die Freundin.

„Jetzt packen wir unsere Koffer und fahren zurück nach Paris. Und dann geht es nach New York und daran, Marcel wiederzufi­nden.“

„O wunderbar.“Ginou klatscht in die Hände wie ein Kind.

„Wir verfolgen Marcel?“„Nicht wir, mein Kind“, sagt Édith gedankenve­rloren und ohne grausam sein zu wollen. Für einen Krieg mit Lucien braucht es eine Freundin ganz anderen Kalibers. Dafür braucht es Momone.

Ginou ist nicht beleidigt, dazu ist sie zu gutherzig. Aber ein wenig wehmütig ist sie schon. „Ah, ich beneide dich. Du wirst bald wieder mit den Compagnons auf Reisen gehen, oder etwa nicht? Nach Kanada! Dort muss es schön sein!“

„Ja sicher.“Édith ist abgelenkt, nimmt eine Bluse vom Bügel und wirft sie in den Koffer.

Ginou holt sie wieder heraus, faltet sie geschickt und legt sie ordentlich zurück. „Guy schreibt, im September färben sich die Blätter in den Wäldern dort ganz bunt, man nennt das ›Indianisch­er Sommer‹ oder so. Oh! Meinst du, ihr trefft Indianer?“, ruft sie in Richtung Badezimmer, in dem Édith gerade verschwund­en ist.

„Indianer?“, tönt es daraufhin zurück. „Was für Indianer?“

„In Kanada. Meinst du, ihr trefft welche?“

„Wenn sie Eintrittsk­arten gekauft haben …“

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE ROMAN VON CHRISTINE GIRARD Copyright © 2019 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Fortsetzun­g folgt

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